Masurens Alleen in Gefahr
Baum an Baum soweit das Auge reicht: Masuren im Nordosten Polens ist bekannt für seine kilometerlangen Alleen. Beim Durchfahren erinnern sie an Tunnel, so sehr absorbiert das dichte Laub die Sonne. „Eine Autofahrt im Schatten der Alleen ist ein Erlebnis“, schwärmt Krzysztof Worobiec. Der 60-Jährige betreibt ein Restaurant mit masurischen Speisen in einem alten Bauernhaus in der Ortschaft Ukta. Suppen aus frischen Pfifferlingen oder mit Waldfrüchten gefüllte Maultaschen kommen hier auf den Tisch. Im Speiseraum liegen Bücher über Baumalleen aus.
Mehrere tausend Kilometer Allen winden sich durch die polnische Wojewodschaft Ermland-Masuren: Zwischen Ostroda (Osterode) im Westen und Elk (Lyck) im Osten, zwischen Szczytno (Ortelsburg) im Süden und Wegorzewo (Angerburg) im Norden. Einst wurden die Bäume als Dekoration für die Zufahrten zu den ostpreußischen Herrenhäusern gepflanzt. Mittlerweile erfüllen sie eine ökologische Funktion: Etliche Vogelarten nisten in den Bäumen, darunter Nachtigallen, Goldammern und Mäusebussarde.
Jedes Jahr verschwinden zig Kilometer Bäume
Doch die Idylle ist in Gefahr. Jedes Jahr verschwinden jährlich zig Kilometer Bäume an den Straßen. Immer wieder stößt man bei einer Autofahrt über die Alleen auf Absperrungen. Arbeiter rücken mit Kettensägen an, holzen Baum für Baum ab und hinterlassen eine kahle Landschaft. Seit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union überweist Brüssel Milliardenbeträge nach Warschau und von da ins strukturschwache Masuren. Weil die Bäume entlang der Straßen als gefährlich gelten, werden sie bei Straßensanierungsmaßnahmen abgeholzt, klagt Gastwirt Worobiec, der auch Fremdenzimmer an Touristen vermietet.
Die Abholzung ist den vielen Hotel- und Pensionsbesitzern in Masuren ein Dorn im Auge. Ihnen geht nicht nur um die Erhaltung der Natur, sondern schlicht um ihre Lebensgrundlage. Masuren ist mit einer Arbeitslosigkeit von mehr als 20 Prozent eine der ärmsten Regionen Polens. Touristen, die wegen der wenig berührten Natur, der Seenlandschaft, aber auch wegen der kilometerlangen Alleen kommen, sind für die Region eine wichtige Einnahmequelle.
Die Alleen gelten als gefährlich
Mit anderen Aktivisten hat Krzysztof Worobiec den Verein „Sadyba Mazury“ gegründet, was so viel wie „Gehöft Masurens“ heißt. „Wir fragen bei den Bauunternehmen nach, ob die Bäume wirklich gefällt werden müssen und versuchen, Einwohner und Planer von der Schönheit der Alleen zu überzeugen“, sagt der Gastwirt. Der Verein hat schon manche Abholzung rechtlich verhindern können, weil geschützte Vogelarten in den Bäumen brüteten.
Die Alleen-Gegner haben aber ein gewichtiges Argument: In Polen und insbesondere im Nordosten des Landes sterben so viele Autofahrer wie in sonst kaum einem Land der EU. Die Quote der Unfalltoten im Straßenverkehr liegt bei 143 pro eine Million Einwohner und ist damit fast doppelt so hoch der EU-Schnitt von 78. An unzähligen Bäumen und Straßengräben stehen kleine Holzkreuze mit Bildern von jungen Menschen, davor brennen Kerzen. Planer und Straßenbauer verweisen auch auf andere Probleme: Das Wurzelwerk könne der Straße von unten zusetzen, zudem fielen Äste hinunter und gefährdeten die Autofahrer. Überhaupt seien die im 19. Jahrhundert angelegten Baumalleen zu schmal für das heutige Verkehrsaufkommen.
Windparks zerstören die Idylle
Iwona Lizewska vom staatlichen Institut für Kulturerbe in Allenstein versucht in dem Streit zwischen Autofahrern und Allee-Fans zu schlichten. Sie und ihre Mitarbeiter haben vor fünf Jahren bereits einen 900 Seiten umfassenden Bericht verfasst, in dem schützenswerte Wege eingetragen wurden. Einige von ihnen stehen jetzt unter Naturschutz. „Die Alleen gehören zur Identität und zum kulturellen Erbe der Region. Wir können sie aber nicht alle bewahren, schließlich gibt es andere Prioritäten wie einen sicheren Straßenverkehr.“ Ihr Kompromiss: Geschwindigkeitsbegrenzungen, Leitplanken oder wenn es nicht anders geht, Abholzung nur auf einer Seite. So lasse sich die Idylle bewahren.
Doch nicht nur die Bulldozer auf den Straßen bedrohen die Idylle. Zusätzlich sollen nun in Masuren und im angrenzenden Ermland riesige Windparks entstehen. Weil Polen immer noch stark auf Kohlegewinnung angewiesen ist, muss es jährlich Strafen an die Europäische Union zahlen. Erneuerbare Energien werden dagegen gefördert: Beim Dorf Kisielice (Freystadt in Westpreußen) oder Korsze (Korschen) etwa stehen bereits Windparks mit jeweils mehr als einem Dutzend Turbinen. „Häufig sind sogar bis zu 150 Meter hohe Anlagen in der Nähe von Vogelschutzgebieten im Gespräch“, kritisiert der Fotograf Miroslaw Bojenko, der vor 20 Jahren aus Warschau ins malerische Ermland gezogen ist und dort in einem restaurierten Bauernhaus wohnt. Die Windanlagen seien eine Gefahr für die vielen Störche, sagt der Fotograf.
Organisationen wie etwa die Koalicja Bezpieczna Energia („Koalition für sichere Energie“) kritisieren, dass die Bauern häufig ihr Land an Windparkbetreiber verpachten und dabei nur an den Pachtzins denken. Nicht selten werden Generatoren dann zu dicht an Siedlungen aufgestellt. Das müsse alles geregelt werden, sagt Bojenko. „Bislang ist das hier wie im Wilden Westen.“