Ungarn

„Ich bin es leid, mich verteidigen zu müssen"

ostpol: Wer in Ungarn Bafög erhält, muss sich verpflichten, nach dem Studium für einige Zeit in Ungarn zu arbeiten. Auch an deiner Uni gab es Proteste gegen diese Studentenverträge. Wie hast du die Situation erlebt?

Agnes Kelemen: Ich habe versucht zu jeder Demo zu gehen. Es ist unglaublich, dass die Regierung hier ein System einführt, das es in ähnlicher Form in Europa nur in der Diktatur Belarus gibt. In unserer Studentenzeitschrift haben wir auch viel über die Entwicklungen berichtet. Allerdings kenne ich auch viele Studenten, die den Vertrag am Ende doch unterschrieben haben, weil sie nicht daran glauben, dass man nach ihrem Studium wirklich kontrollieren kann, wo sie arbeiten und ob sie das Geld zurückzahlen. Ich selbst glaube auch nicht daran, aber für mich war es einfach eine Frage des Prinzips, das Dokument nicht zu unterschreiben. Zum Glück bekomme ich ein Stipendium der Soros-Stiftung und muss nicht selbst zahlen. Trotzdem denke ich, dass es besser ist, einer Bank Geld zu schulden als diesem Staat.

Du bist bekennende Jüdin und engagierst dich in der jüdischen Gemeinde. Wie fühlt man sich als Jüdin unter Fidesz?


Die Studentenverträge

Wer in Ungarn einen Antrag auf staatliche Studentenförderung (in Deutschland: Bafög) stellt, muss unterschreiben, dass er in einem Zeitraum von 20 Jahren nach seinem Abschluss die Zahl seiner Studienjahre in einer Arbeitsstelle in Ungarn verbringt. Kassiert ein Student also zum Beispiel fünf Jahre lang staatliche Gelder, verpflichtet er sich, in einem Zeitraum von 20 Jahren nach dem Abschluss mindestens fünf Jahre in Ungarn zu arbeiten. Solche Verträge gibt es sonst auf dem europäischen Kontinent nur noch im autoritären Belarus. Die Einführung hatte Massenproteste unter Ungarns Studenten ausgelöst. Die Regierung will damit verhindern, dass junge, gut ausgebildete Menschen massenweise das Land verlassen.


Kelemen: Als Jude kann man eigentlich nicht mit Fidesz sympathisieren. Schließlich grenzen sie sich nicht klar genug von der rechtsradikalen Jobbik-Partei ab. So sehe ich das zumindest. Trotzdem gibt es komischerweise eine jüdische Gemeinde, die Fidesz unterstützt. Was Jobbik im Parlament veranstaltet, ist lächerlich. Vor kurzem hat ein Jobbik-Abgeordneter beispielsweise vorgeschlagen, eine Liste anzulegen, in der alle Abgeordneten vermerkt sind, die neben der ungarischen auch eine israelische Staatsbürgerschaft haben. Schließlich könne man bei diesen Leuten von einer mangelnden Loyalität zu Ungarn ausgehen. Ein anderer schlug sogar vor, einen alten Fall von 1882 wieder aufzurollen, in dem Juden eine Christin umgebracht haben sollen und dann zu Unrecht freigesprochen wurden. Dass aber fast alle ungarischen Nobelpreise jüdischen Bürgern zu verdanken sind, davon spricht niemand.

Wurdest du persönlich auch schon attackiert?

Kelemen: Nein. Ich meide aber auch die Orte, wo das passieren könnte. Ich gehe nicht in bestimmte Bars oder ins Fußballstadion. Angst habe ich aber nicht. Wenn ich jemanden kennenlerne, sage ich ihm auch sehr schnell, dass ich Jüdin bin. Wenn er etwas gegen Juden hat, habe ich so wenigstens die Chance, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Trotzdem überlege ich ernsthaft, nach Israel zu ziehen. Ich bin es leid, mich dauernd verteidigen zu müssen. Außerdem habe ich auch das Gefühl, dass es zu wenige Leute interessiert, was mit unserem Land passiert. Es sind irgendwie immer dieselben Aktivisten bei den Demos. Verständlicherweise fangen viele an, lieber individuelle Entscheidungen zu treffen und das Land zu verlassen, als im Kollektiv zu protestieren.


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