Die Kraft des Liedes
Es ist immer noch heiß an diesem Abend, als die 20-jährige Alice Baumane zur Chorprobe kommt. Während in der Altstadt von Riga die Touristen ihr erstes Bier genießen, stimmen die 40 Sänger vom „Balsis-Chor“ ein Volkslied an. Die Männer haben ihre Anzugjacken über die Stuhllehnen gelegt, die Frauen ihre Pumps gegen Schlappen getauscht. Auch Alice ist vom Büro zur Chorprobe gekommen. Um fünf Uhr ist sie heute Morgen aufgestanden und extra früh zur Arbeit gegangen, damit sie pünktlich kommt. „Wir proben drei Stunden. Das ist anstrengend, aber auch toll. Beim Singen werde ich meine Sorgen los.“
Der Gesang ist die gemeinsame Sprache der Letten
Alice und ihr Chor bereiten sich auf das wichtigste lettische Volksfest vor: 30.000 Sänger und Sängerinnen stehen am kommenden Sonntag in Riga auf der Waldbühne, wenn Lettland den Höhepunkt seines berühmten Sängerfest feiert. Alle fünf Jahre findet das Spektakel statt. Schon seit Tagen wird überall in Riga gesungen und getanzt. Am Sonntag werden dann alle Chöre in historischen Trachten durch die Altstadt von Riga ziehen. Wie beim Rosenmontagszug bejubelt von Hunderttausenden, die die Sänger zur großen Waldbühne begleiten. „Das Sängerfest ist das größte Ereignis in meinem Leben. Ganz Lettland wird zusammen singen. Über unsere Lieder sprechen wir eine gemeinsame Sprache“, sagt Alice Baumane.
Bei diesem Sängerfest erwartet Lettland auch hohen Besuch aus Deutschland: Am Sonntag wird Bundespräsident Joachim Gauck zum Auftakt seiner mehrtätigen Baltikumreise in der ersten Reihe stehen, wenn die Letten ihre Lieder anstimmen. Wegen ähnlicher Erfahrungen im Sozialismus fühlen sich die Letten Joachim Gauck sehr verbunden. Während der Sowjetzeit waren ihre Lieder streng verboten. 1989 bis 1991 versammelten sich hunderttausende Balten auf Plätzen und Straßen und protestierten singend gegen das Sowjetregime.
Mit Liedern befreiten sich die Letten von den Russen
Bis heute ist die „singende Revolution“, mit der sich Lettland schließlich von den Sowjets befreite, ein Bestandteil der lettischen Identität. „Das war alles sehr emotional. Wie verständigten uns ohne Worte, nur mit einem Lied. Angst hatte ich nie“, erinnert sich der Dirigent Ints Teterowskis, der als Musikstudent an der „singenden Revolution“ teilnahm. „Das Bewegende war, dass ich zum ersten Mal stolz darauf war, ein Lette zu sein“, sagt der unkonventionelle Künstler, der für gewöhnlich in Bermudashorts und Mountainbike durch die Gassen von Riga fährt.
Sängerfeste gibt es aber schon viel länger in Lettland. Vor 130 Jahren stimmten die Chöre Lettlands zum ersten Mal gemeinsam ihre Lieder an, seitdem ist das Sängerfest fester Bestandteil des lettischen Lebens. „Wir sind ein kleines Volk. Es gibt nur 1,5 Millionen Menschen auf der Welt, die lettisch sprechen“, sagt Teterowskis. Auch dank des gemeinsamen Liedguts sei die lettische Sprache nicht ausgestorben, obwohl abwechselnd Deutsche, Schweden und Russen die Letten beherrschten und ihre Sprache vernichten wollten. „Wir haben noch immer unsere Lieder, das ist unser Reichtum“, sagt der Dirigent.
30.000 Letten singen gemeinsam in einem riesigen Chor
Für Alice Baumane und ihren Chor hat die heiße Phase begonnen. Bis Sonntag stehen zahlreiche Proben, Konzerte und Wettbewerbe an. Die harte Arbeit der vergangenen Jahre hat sich gelohnt: Nicht jeder lettische Chor darf auf die große Waldbühne. Der Balsis-Chor musste viele Prüfungen bestehen, um zu den Auserwählten zu zählen. 30.000 Letten singen dann gemeinsam. Wie in einem einzigen riesigen Chor.