Ein Leben, sieben Pässe
Ilona Tamas hat die Gegend, in der sie geboren wurde, nie verlassen. Dennoch hat sie in fünf Staaten gelebt und sieben Mal die Staatsbürgerschaft gewechselt. Sie wurde 1912 im Dorf Vargede als Bürgerin des ungarischen Königreichs geboren. Das Dorf liegt in der Region Gemer in der Südslowakei. Einst gehörte das „Oberungarn“ genannte Gebiet zu Ungarn. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel es durch den Vertrag von Trianon 1920 an die Tschechoslowakei, von 1938 bis 1945 war es von Ungarn besetzt, nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte es wieder zur Tschechoslowakei, seit 1993 zur Slowakei.
Noch einmal einen ungarischen Pass in den Händen halten
Ihre Identität als Ungarin bedeutet Ilona Tamas immer noch viel. Deshalb wollte sie am Ende ihres Lebens noch einmal eine ungarische Staatsbürgerschaftsurkunde in der Hand halten. Ein sehr persönlicher und rein symbolischer Wunsch, den sie sich kurz vor ihrem 100. Geburtstag erfüllte. Möglich machte es ein ungarisches Gesetz, mit dem Auslandsungarn die ungarische Staatsbürgerschaft seit 2010 umstandslos erhalten können.
Nie hätte die alte Dame gedacht, dass das Elend der Geschichte sie wegen ihrer sentimentalen Geste noch einmal einholen würde. Es kam im Dezember 2011 in Form eines Briefes der Polizeidienststelle von Rimavska Sobota, ihres Heimatortes. In dem Brief stand, sie solle ihren Personalausweis und ihren Reisepass abgeben, da sie aus dem Register der slowakischen Staatsbürger gestrichen worden sei. Tamas war fassungslos und wütend. Seitdem kämpft sie darum, ihre slowakische Staatsbürgerschaft zurückzubekommen. Sie hat sich unter anderem an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gewandt. „Ich hatte immer zwei Identitäten, eine ungarische und eine slowakische, und ich möchte Bürgerin beider Staaten sein“, sagt sie.
„Tante Ilonka“ verkörpert mit ihrer Person ein unsinniges Gesetz
Die ehemalige Lehrerin Ilona Tamas ist in der Slowakei und in Ungarn seither als „Tante Ilonka“ bekannt. Sie verkörpert mit ihrer Person ein Gesetz, das viele Slowaken als unsinnig empfinden: die 2010 vom Parlament in Bratislava verabschiedete Staatsbürgerschaftsnovelle, derzufolge Bürger der Slowakei automatisch ausgebürgert werden, wenn sie Staatsbürgerschaften anderer Länder besitzen. Für den Fall, dass sie dies slowakischen Behörden verheimlichen, müssen sie mit einer Geldstrafe von 3.000 Euro rechnen.
Fast 500 Fälle von Ausbürgerung gab es bisher. In den meisten Fällen hatten die Betroffenen zuvor die tschechische, österreichische oder deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Auch einigen Dutzend slowakischen Ungarn wurde die Staatsbürgerschaft entzogen.
Gegen die ungarische Minderheit war das Gesetz ursprünglich überhaupt gerichtet gewesen – eine Antwort auf das 2010 von der Budapester Orban-Regierung geänderte ungarische Staatsbürgerschaftsrecht. Das war für große Teile der slowakischen politischen Elite ein symbolischer Affront. Viele slowakische Politiker verdächtigen die 460.000 Ungarn im Land noch immer häufig, eine Fünfte Kolonne Budapests zu sein.
Nun hat sich das Europäischen Parlament eingeschaltet
„Ein demokratischer Staat sollte sich nicht davor fürchten, wenn ein kleiner Teil seiner Bürger noch eine andere Staatsangehörigkeit besitzt“, sagt Bela Bugar, Vorsitzender der Partei „Most-Hid“ („Brücke“ – Partei der Zusammenarbeit), der parlamentarischen Vertretung der ungarischen Minderheit. Bugar verweist darauf, dass die slowakische Verfassung es ausdrücklich verbiete, den Bürgern des Landes die Staatsbürgerschaft zu entziehen. „Deshalb haben wir vor dem Verfassungsgericht gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz geklagt“, so Bugar.
Während ein Urteil des slowakischen Verfassungsgerichtes seit anderthalb Jahren aussteht, ist derzeit eine neue politische Debatte um das Gesetz entbrannt: Das Europaparlament will sich nach einem Beschluss des Petitionsausschusses von Ende Mai mit dem Thema befassen. Gleichzeitig lehnte das slowakische Parlament geänderte Bestimmungen für Doppelstaatsbürger ab. Auch die Ungarn-Partei „Most-Hid“ stimmte dagegen. „Wir wollen keine Erleichterungen“, sagt der Abgeordnete Gabor Gal, „das Gesetz gehört komplett abgeschafft.“
„Ich bin eine Unperson“
Der Chef der Ungarischen Koalitionspartei (MKP), Jozsef Berenyi, verweist darauf, dass die Slowakei ihrerseits im Ausland lebenden Slowaken seit 1997 anbietet, die slowakische Staatbürgerschaft wieder anzunehmen. „Da ist der Grundsatz der Rechtsgleichheit verletzt“, so Berenyi.
Die Debatte um das Gesetz zeigt, wie schwer sich der slowakische Staat auch im Jahre zwanzig seiner Existenz noch mit seinen Minderheiten tut. Zehn Prozent der slowakischen Bevölkerung sind Ungarn, noch dazu leben sie in kompakten Gebieten in der Südslowakei entlang der ungarischen Grenze.
Ilona Tamas erhielt für ihre Arbeit als Lehrerin Auszeichnungen, darunter 2006 die Goldene Verdienstmedaille der Slowakei. Dass der Staat sie nun ausgebürgert hat, empfindet sie als absurd. Die alte Dame wartet auf eine Entscheidung aus Straßburg. „Ich war schon einmal staatenlos, 1945 bis 1948, und musste um die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft kämpfen“, erzählt sie. „Jetzt bin ich in meiner eigenen Heimat, in der ich ein Leben lang gearbeitet und Steuern gezahlt habe, wieder eine Unperson.“