Litauen

Streitthema Energie

Sie kommen jeden Tag um die Mittagszeit vor den prächtigen Präsidentenpalast im Herzen von Vilnius. Mit Pastellkreiden malen die Frauen und Männer Pflastersteine aus, bis nach gut einer Stunde das Wort „Gerechtigkeit“ zu lesen ist. Die Demonstranten verlangen von Präsidentin Dalia Grybauskaite und deren Regierung, Wort zu halten, sagt eine junge Frau. „Im Oktober haben die Litauer gegen ein neues Atomkraftwerk gestimmt, aber die Regierung will es trotzdem bauen.“

Ohne die Bürger zu fragen, soll jetzt auch noch mit unterirdischen Sprengungen, dem sogenannten Fracking, Schiefergas gefördert werden, mischt sich wütend ein Mann ein. „Wir klagen unsere Regierung an, weil sie nicht die erneuerbaren Energien fördert, sondern unsere Umwelt zerstört.“


Die Abhängigkeit von Russland ist vielen unangenehm

Die Frage, woher Litauen seine Energie bezieht, sorgt in dem kleinen Baltenstaat regelmäßig für hitzige Debatten. Am 1. Juli übernimmt Litauen nun zum ersten Mal seit seinem EU-Beitritt im Jahr 2004 die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union und hat das Thema ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt. Bislang ist die ehemalige Sowjetrepublik abhängig von Energieimporten aus Russland. Aus dieser Abhängigkeit will sie sich so schnell wie möglich befreien. Deshalb will sich Litauen im kommenden halben Jahr innerhalb der EU für einen gemeinsamen europäischen Energiemarkt stark machen.

Die Frage ist nur, wie die Unabhängigkeit von Russland aussehen soll. Vor vier Jahren musste Litauen seinen alten Kernreaktor Ignalina im Osten Litauens abstellen. Das hatte Brüssel verlangt, weil Ignalina baugleich mit dem Unglücksreaktor von Tschernobyl war. Seitdem muss Litauen sowohl Strom als auch Gas aus Russland beziehen. Trotzdem lehnten bei einer Volksbefragung im vergangenen Jahr 63 Prozent der Litauer einen neuen 1,7 Milliarden Euro teuren Atommeiler ab. Eine Mehrheit der Litauer ist dafür, Gebäude zu sanieren, Energie zu sparen und auf die Erneuerbaren zu setzen.


Biomasse oder Atomkraft?

Einer, der sich für die Erneuerbaren stark macht, ist Linas Balsys. Der Politiker der Grünen-Partei setzte im vergangenen Herbst das Referendum für oder gegen den Bau eines neuen Atomkraftwerks durch. Mehr noch konnte Linas Balsys bei der gleichzeitigen Parlamentswahl als erster Grüner einen Sitz im Abgeordnetenhaus erringen. Während die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite den Volksentscheid bis heute als Farce und „nicht bindend“ ablehnt, war Linas Balsys froh, dass er die neue Mitte-Links- Koalition unter Ministerpräsident Algirdas Butkevicius sogleich für die Erneuerbaren gewinnen konnte.

Längst hat eine Arbeitsgruppe Litauens Energiestrategie ohne Atomkraft entwickelt. Experten hätten deutlich vorgerechnet, dass der Ausbau von Wind, Wasser und Biomasse viel effizienter sei, sagt Balsys. Litauen könnte seine Blockheizwerke, die heute mit russischem Gas befeuert werden, auf Biomasse umrüsten und auf diesem Gebiet neue Arbeitsplätze schaffen. Gerade darauf wolle er während der litauischen EU Ratspräsidentschaft hinweisen. Trotzdem kommen Linas Balsys Zweifel, ob die Energiewende tatsächlich ernst gemeint ist. „Unser Premierminister zögert seit Monaten. Die Präsidentin will den Atommeiler, und er redet sich heraus. Wir haben bis heute keine Entscheidung, ob es in Litauen tatsächlich ohne Atomstrom weiter geht.“


Auch an das umstrittene Fracking wird gedacht

Niemals könnten die Erneuerbaren das Rückgrat der litauischen Energieversorgung bilden, sagt dagegen Nerijus Udrenas. Der Experte berät die litauische Präsidentin in der Energiepolitik. Wenn Finnland bereits über zwei neue Atommeiler nachdenke, dann sollte auch Litauen einen neuen Reaktor bauen, sagt er. Immerhin wolle das Land energiepolitisch unabhängig werden. Ein Schritt ist schon gemacht: Ab Ende 2014 werden zwei Kabel den litauischen Energiemarkt mit Schweden und Polen verbinden. Diese machen Litauen schon dann unabhängig von russischen Stromlieferungen.

Die Regierung setzt aber auch auf den amerikanischen Chevron-Konzern, der im Südwesten Litauens auf der Suche nach dem umstrittenen Schiefergas ist. Gerade vor dem Hintergrund der litauischen EU-Ratspräsidentschaft müsse Europa daran festhalten, dass Strom bezahlbar bleibt. „Wenn wir keine billige Energie haben, werden wir europaweit keine Jobs schaffen können. Atomkraft und Gas sind das Rückgrat der europäischen Energiepolitik. Ansonsten wird Europa weltweit nicht konkurrenzfähig bleiben“, sagt Regierungsberater Udrenas.

Die Demonstranten vor dem Präsidentenpalast lassen sich davon nicht beirren. Sie erwarten während
der EU-Ratspräsidentschaft hohen Besuch aus ganz Europa. Nach ihrem Willen sollen Politiker und Experten Litauen von den erneuerbaren Energien überzeugen.


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