Schlecht geboren
Am 28. Juni 2013 um 19 Uhr stellt Filip Springer sein Buch „Schlecht geboren” im Buchbund in Berlin vor.
Gespräch Nr. 5: Filip Springer „Schlecht geboren. Reportagen über die Architektur in der VR Polen”
Aus der Veranstaltungreihe Reportagen ohne Grenzen
buch|bund
Berlin-Neukölln, Sanderstr. 8, U8–Schönleinstraße
In tiefstem Granitschwarz schimmernd tauchte er recht unvermittelt an der Bracka-Straße auf und füllte eine Lücke in der südlichen Häuserfront an der Jerozolimskie-Allee. Es war das Jahr 2011, eben waren die Baugerüste verschwunden, und so blieben die Vorbeigehenden stehen und legen den Kopf in den Nacken, um ihn sich anzusehen. Gewöhnlich schauten sie schweigend und setzten nach einer Weile ihren Weg fort. Er wirkte jedoch magisch anziehend, sodass sie sich noch einmal umdrehten und ihm einen letzten Blick schenkten. Vielleicht dachten sie sogar noch an ihn, wenn sie in den Bus stiegen oder um die Ecke bogen.
Andere Bezeichnungen für Lord Vader lauten: „Sarkophag“, „Totenschuh“, „Monolith“. Kurz gesagt: Die dunkle Seite der Macht.
Das pechschwarze Einkaufs- und Bürozentrum ist eines von Stefan Kurylowiczs letzten Bauprojekten. Er errichtete es hier im Auftrag der allseits bekannten Familie Likus aus Krakau. Mit seinen abgerundeten Ecken korrespondiert das Gebäude mit dem gegenüberliegenden Zentralen Warenhaus, heute allgemein „Smyk“ [„Knirps“] genannt. Der helle, moderne Sandsteinblock des Smyk und Kurylowiczs schwarzer Monolith sind einen Dialog eingegangen, eine architektonische Konversation. Das ist gut so. Und vielleicht blieben die Vorbeigehenden – wenn auch völlig unbewusst – gerade deswegen hier stehen, um sich diese Schwärze anzusehen.
Darth Vader zog jedoch nicht nur magisch an. Der schwarze undurchdringliche Block hatte noch eine weitere Eigenschaft: Er konnte vernichten. Das, was er absorbiert hat, war seine Antithese, sein völliges Gegenteil. Es war eine Wolke aus Licht und Luft, ein glänzendes Flirren. Ein Kritiker schrieb gar darüber: „Wer das nicht gesehen hat, wird die Quelle der Wahrheit nie begreifen“.
Die Quelle der Wahrheit nannte sich „Chemiepavillon”. Entworfen wurde er von Jan Bogusławski und Bohdan Gniewiewski, und in Scherben lag er am elften April 2008.
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Avantgarde also
Avantgarde also. Die dritte Etage des Kattowitzer Architektur- und Städtebaubüros „Miastoprojekt“, Abteilung Innenstadt. Schwarze Rollkrägen, Reißbretter, Wolken von Zigarettenrauch, große Pläne. In Schlesien ist diese Dritte Etage der architektonische Olymp. Für die Architekturprojekte von hier werden Altbauten in Schutt und Asche gelegt. Verfallene, dunkle, altmodische, großbürgerliche Altbauten – so denkt und spricht man zu dieser Zeit über sie. Die Architekten wollen frischen Wind in die Stadt bringen, Sonne und Grün hereinlassen. Modern soll es sein – Beton und Glas. So, dass der Bergmann nach Schichtende etwas hat, woran sich sein Auge freuen kann.
Es ist das Jahr 1955 – der Sozrealismus liegt im Sterben, so wie auch der Name der Stadt, den niemand hier benutzen will: Stalinogrod – „Stalin-Stadt“. Le Corbusier baut in Nantes seine zweite Wohnmaschine, und Mieczyslaw Krol ist Architekturstudent kurz vor dem Abschluss und sieht sich nach einer Arbeit um. Diese zeitliche Übereinstimmung ist so zufällig wie verhängnisvoll.
Lesung von Filip Springer
Im Rahmen der Reihe „Reportagen ohne Grenzen“ liest Filip Springer am Freitag, 28. Juni, um 19:00 Uhr aus „Schlecht geboren“ in der deutsch-polnischen Buchhandlung Buchbund, Sanderstr. 8, 12047 Berlin.
Idee und Organisation: Marcin Piekoszewski, Lisa Palmes
Moderation: Paulina Olszewska
Übersetzungsproben: Lisa Palmes
Lesung: Nina Müller
Irgendwann bekommt Mietek Król eine Arbeit zugewiesen und landet, zu seiner Freude, in der besagten Dritten Etage. Sofort werden ihm große Projekte auf den Tisch gelegt. Zum Beispiel Koszutka. So raffiniert hat Król diesen Stadtbezirk erdacht und gezeichnet, dass den Leuten fast die Augen aus dem Kopf gefallen sind, und jetzt sagen sie, er sei anmaßend. Entgegen aller bisherigen Normen hat er befunden, es sei höchste Zeit für neunstöckige Wohnblocks – und damit die Schallmauer durchbrochen, denn bis dahin ist in der Stadt nicht höher als fünf Stockwerke gebaut worden. Mehr erlauben die Vorschriften nicht; das ganze Gebiet ist durch Bergbauschäden gefährdet und niemand will eine Katastrophe riskieren. Die Entscheidungsträger aus Warschau können sich lange nicht einigen, sagen, seine Blocks seien nicht funktional, die quadratisch angelegten Wohnungen angeblich ungünstig geschnitten. Er fährt hin, redet, argumentiert und bekommt schließlich den Zuschlag. Ingenieur Król ist der Erste, der hier etwas baut, das die Fördertürme überragt.
Ein Jahr danach fährt Bierut nach Moskau, zieht sich eine Erkältung zu und stirbt. Von dieser Erkältung sprechen die Menschen nur in Anführungszeichen. Nun muss das sozialistische Polen die „Fehler und Verzerrungen“ der vergangenen Jahre wieder geradebiegen. In der Architektur heißt das soviel, dass jetzt nicht mehr überall unbedingt Baluster, Säulen, Deckenornamente und andere Verzierungen untergebracht werden müssen. Die Appelle der modernen Architekten lauten „Das Ornament ist ein Verbrechen“, „Weniger ist mehr“, „Form Follows Function“, und langsam werden sie auch an der Weichsel gehört. Nicht ohne einen gewissen Widerstand, aber von Jahr zu Jahr bereitwilliger. In der Kattowitzer Dritten Etage herrscht eine Atmosphäre, als hätte plötzlich jemand alle Fenster aufgerissen.
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Die Gärten von Zoliborz
Alles beginnt mit den Gärten. Es ist das Jahr 1958, Halina Skibniewska arbeitet mit der Warschauer Wohnungsbaugenossenschaft zusammen, die im Stadtteil Zoliborz eine Wohnsiedlung für mehrere Tausend Bewohner errichten lassen will. Skibniewska willigt ein, die Siedlung zu entwerfen, aber nur zu ihren eigenen Bedingungen. Als sie dem derzeitigen Genossenschaftsvorsitzenden den Entwurf für die „Kolonie I“ zeigt, sagt der nur:
„Ich verstehe Ihren Plan zwar nicht ganz, aber wir probieren es einfach, Frau Halina.“
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Die Gärten von Zoliborz sind im Grunde seit ihrer Entstehung ein Beispiel dafür gewesen, wie man, auch wenn man sich an sie starren kommunistischen Normen hielt, bewohnerfreundliche Anlagen und Häuser bauen konnte. Anfang der 1990er Jahre wurde der alte Garten hinter der Kolonie I in einen Park für die Anwohner der umliegenden Blocks umgestaltet.
Er ist der merkwürdigste Park von ganz Warschau, denn im Sommer und Herbst kann man hier auf den Spuren der leckersten Früchte wandeln. Hier decken sich die Rentner von Zoliborz mit Obst ein, genauso wie in den Pausen die Schüler der nahen Schule. „Wir haben mit unseren eigenen Fäusten um diesen Park gekämpft“, erklärt mir ein eleganter Herr in Windjacke und Strohhut. „Da kam so eine Oberschlaue daher und sagt, sie will hier neue Blocks hinstellen. Aber da lief die ganze Gemeinschaft hier zusammen, es gab eine Versammlung in der Schule, und da haben wir sie gleich hingescheucht.“
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Tomasz Fudala, Kunstkritiker und Kurator im Museum für Moderne Kunst in Warschau, hat einige Monate lang das häusliche Archiv von Halina Skibniewska durchforstet. Dann schrieb er in einem Text mt dem Titel „Die Schönwettersiedlung“ Folgendes über ihre Architektur: „Sie bemühte sich, das Ausmaß der Katastrophe zu begrenzen, die sich auf Tausende Blocks und Wohnsiedlungen erstreckte, ein bis heute auf Schritt und Tritt gegenwärtiges Überbleibsel des Systems.“
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Aus dem Polnischen von Lisa Palmes