Ukraine

Kulturkampf im „Land der Träume“

Wenn im Juni die Tage heiß und die Nächte kurz sind, holt Katja Gladka ihr buntes Leinenhemd aus dem Schrank, bindet einen Blumenkranz in ihr blondes Haar und läuft auf einen Hügel nahe Kiew. In der Mittsommernacht, die in der Ukraine nach dem julianischen Kalender meist schon vom 23. auf den 24. Juni gefeiert wird, zünden dort junge Männer kleine Lagerfeuer an, nehmen Frauen an die Hand und springen über die lodernden Flammen. Später laufen die Frauen zu einem nahe gelegenen Bach und legen Blumenkränze ins Wasser. Aus der Richtung, in die der Kranz schwimmt, heißt es in der Legende, soll der künftige Ehemann kommen.

Slawische Bräuche, Folklore und Nationaltrachten boomen in der Ukraine. Im Sommer strömen Tausende zum „Land der Träume“, einem Volksfest in Kiew. In diesem Jahr findet es am 6. und 7. Juli statt – wenn die Mittsommernacht nach dem gregorianischen Kalender gefeiert wird. Kosaken in bunten Hemden präsentieren dort Kampfkünste, Mädchen mit langen Zöpfen trällern Volkslieder, Bauern töpfern Krüge aus Lehm. Für Besucher gilt jedoch ein ungeschriebenes Gesetz: Russisch zu sprechen ist tabu.

„Wir wollen ukrainische Traditionen pflegen“, erklärt die 22 Jahre alte Geschichtsstudentin Katja. „Und dazu gehört nunmal die ukrainische Sprache“, fügt sie hinzu. Wie die meisten Besucher des Festes wird Katja Jeans, Sportschuhe und eine Wyschewanka, ein traditionelles Hemd mit bunten Stickereien tragen. Ihren Nationalstolz zeigt Katja auch im Alltag. Fünf weitere Hemden liegen zu Hause im Kleiderschrank, die Trachten trägt sie an der Uni oder auf der Straße beim Einkaufen.


Kulturkampf zwischen Osten und Westen

In der Ukraine tobt ein Kulturkampf zwischen dem ukrainischsprachigen Westen des Landes und dem russisch dominierten Osten. Ausgetragen wird der Kampf vor allem im Radio. Während im Osten überwiegend russischer Pop läuft, sind im Westen ukrainische Gruppen wie Tartak oder Okean Elsa populär. Studentin Katja befürchtet, dass Russland auch über die Sprache zu viel Einfluss im Land gewinnt. Volksfeste wie das „Land der Träume“ sollen dem Trend entgegenwirken.

Rockmusiker Oleg Skripka, der das Traumland-Festival seit 2005 organisiert, kämpft in dem Kulturkrieg an vorderster Front. Der 48 Jahre alte Sänger mit den strohblonden Haaren setzt sich für mehr ukrainischsprachige Musik im Radio ein. Einen kleinen Erfolg kann der in Tadschikistan geborene Künstler schon verbuchen: „Ende der Neunziger war nur ein Prozent der im Radio gespielten Musik ukrainisch – heute sind es zehn Prozent“, sagt Skripka. Auch politisch nimmt der Sänger Stellung: Während der Orangenen Revolution 2004 unterstützte er den ehemaligen pro-europäischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko.

Ukrainische Traditionen gerieten zu Sowjetzeiten in Vergessenheit, bemerkt Studentin Katja. Auf dem Festival in Kiew hockt im Schatten einer Mauer ein alter Mann mit slawischer Tracht und Zwirbelbart. Behutsam zupft der Greis an einem Koboz, das ist ein dickbäuchiges Holzinstrument ähnlich wie ein Banjo. Anfang des 19. Jahrhunderts saßen solche Musiker, Kobsare genannt, einsam am Wegesrand und musizierten aus purem Vergnügen. Stalin ließ die Kobsare von den Straßen vertreiben, „doch seit einigen Jahren sieht man sie wieder in Fußgängerzonen“, erzählt Katja.

Auf dem Festival „Drei-Felder-Kreis“ nahe Kiew vermischt sich slawisches Brauchtum sogar mit New Age und Esoterik. Frauen in Nationaltracht verbiegen sich beim Joga, Hare-Krishna-Jünger summen Chakren, Hippies tanzen sich Ekstase. Finanziert wird das Fest von ausländischen Einrichtungen wie dem Polnischen Kulturinstitut und der amerikanischen Botschaft in Kiew.


Janukowitsch würde die Folk-Spektakel am liebsten stoppen

Die Regierung unter Präsident Wiktor Janukowitsch würde die Folk-Spektakel am liebsten stoppen. Denn auf den Festivals werden zwischen Holzpuppen und Töpferwaren auch T-Shirts mit dem Bild von Stepan Bandera verkauft. Bandera führte im Zweiten Weltkrieg die Ukrainisch-Aufständische-Armee, die gegen die Sowjetunion kämpfte und bis 1943 mit den Nazis kollaborierte. In der Westukraine gilt Bandera als Nationalheld, im Osten des Landes als Faschist.

Umgekehrt haben die Festivalbesucher für Janukowitsch nicht viel übrig. Seine Partei der Regionen wurzelt im Osten der Ukraine, wo die meisten Menschen Russisch sprechen. Ein im letzten Jahr verabschiedetes Sprachgesetz sorgt für Aufregung auf beiden Seiten. Das Gesetz erlaubt es, in den östlichen und südlichen Landesteilen, russisch als zweite Amtssprache einzuführen. Für Rocksänger Oleg Skripka eine Horrorvorstellung: „Wenn sich Russisch als Amtssprache ausbreitet, könnte die ukrainische Sprache in zwanzig bis dreißig vollständig verdrängt werden.“

Auf dem Traumland-Festival in Kiew steht auf einem Hügel eine riesige Strohpuppe. In der Nacht umzingeln die Besucher die Puppe, ein Mann tritt aus dem Kreis hervor und zündet das trockene Stroh mit einer Fackel an. Das knisternde Feuer soll nach heidnischem Brauch böse Geister fernhalten. Viele wünschen sich, es möge auch die russischen Gespenster vertreiben.


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