Abchazja
Ich beginne alle meine Gespräche mit der Politik. Meine Doktorarbeit handelt von der Gegenwart, die Zeitungen wollen aktuelle Texte. Mehr jedoch interessiert mich das Abchasiertum (wie auch das Georgiertum, das Armeniertum, das Aserbaidschanertum und das Kaukasiertum allgemein). Der schwer zu fassende Geist einer Nation. Wenn die aktuellen Themen ausgeschöpft sind, frage ich meine Gesprächspartner nach ihren Vorfahren: Woher kommen ihre Eltern? Was haben die Großeltern gemacht? Wer waren die Urgroßeltern? Im Kaukasus sind das natürliche Fragen, die auf der Hand liegen. Die Antworten verraten die Denkensart, das Wertesystem. Die Mentalität.
Lakoba nicht danach zu fragen wäre unverzeihlich gewesen. Politiker ist er zwangsläufig geworden, wie Woronow und Ardsinba. Wie so viele in diesen irren Zeiten. Aber die Wissenschaft hat er nicht aufgegeben – er schreibt, publiziert, lehrt. Und er ist ein Verwandter von Nestor Lakoba, dem legendären kommunistischen Führer Abchasiens aus den zwanziger und dreißiger Jahren.
Ich frage ihn, wie die Abchasier ohne gemeinsame Religion überdauern konnten. Denn die Georgier verbündeten sich rund um einen Patriarchen, die Armenier um einen Katholikos, und die Tschetschenen und Dagestaner wurden im Krieg gegen das zaristische Russland von Imam Schamil angeführt. Er antwortet, obwohl achtzig Prozent der Abchasier sich zum Christentum und zwanzig Prozent zum Islam bekennen, seien die ganzen hundert Prozent Anhänger des traditionellen Heidentums.
Orte, an denen eine andere Physik herrscht
Ein wenig weiß ich über diese Religion. Ihre Kathedralen sind sieben Swiatilischtsche, heilige Orte, die einfach „Heiligtum“ genannt werden. Der wichtigste heißt Dydrypsch-Nycha. Haus des Donners. Er befindet sich in der Wildnis, nicht weit von Atschandara. Seit Generationen kümmert sich das Bauerngeschlecht der Tschitschba um ihn. Im Unterschied zu den Hausheiligtümern, die sich mit Kapellen vergleichen lassen, werden die Großen Sieben von allen Abchasiern verehrt. Aber es gibt auch noch mittelgroße, lokale, nur in einem bestimmten Landkreis oder sogar in einem bestimmten Dorf von einem Kult umgebene Swiatilischtsche. Manche sind berühmt dafür, dass eine große Kraft von ihnen ausgehe.
Lesung von Wojciech Gorecki
Im Rahmen der Reihe „Reportagen ohne Grenzen“ liest Wojciech Gorecki am Freitag, 31. Mai, um 19:00 Uhr aus „Abchazja“ in der deutsch-polnischen Buchhandlung Buchbund, Sanderstr. 8, 12047 Berlin.
Idee und Organisation: Marcin Piekoszewski, Lisa Palmes
Moderation: Joanna Czudec
Übersetzungsproben: Lisa Palmes
Lesung: Florian Ludwig
„An solche Orte sollte man nur gehen, wenn es notwendig ist“, sagt Lakoba. „Und auch dann nur mit einem Priester. Nie allein. Die Swiatilischtsche sind wie Bermudadreiecke. Dort herrscht eine andere Physik. Ich erzähl dir was.
Ich war einundzwanzig, vielleicht zweiundzwanzig Jahre alt, Student und fasziniert von Mythologie und Archäologie. In den Ferien machte ich mich auf zu einer Bergkette am Bsyp. Dort befindet sich ein Ort, an dem die Abchasier dem bösen Berggeist Ehre erwiesen, und diesen Ort wollte ich sehen. Unterwegs machte ich bei Hirten halt, entfernten Verwandten von mir. Ich dachte, sie würden mir den Weg zeigen, aber sie weigerten sich. Sie hatten Angst um mich. Und der Swiatilischtsche war etwas so Heiliges für sie, dass es in ihren Augen ein Sakrileg gewesen wäre, ihn im Gespräch zu erwähnen – ganz zu schweigen davon, mit dem Finger auf ihn zu zeigen. Ich musste ihn also auf eigene Faust suchen. Einen Monat lang stieg ich jeden Morgen auf den Berg Napra und kehrte jedes Mal erfolglos zurück. Wären da nicht die Arbeiten des russischen Botanikers Nikolai Albow gewesen, der den Ort gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben hatte, hätte ich geglaubt, es gäbe ihn nicht und hätte ihn nie gegeben.
Die Worte sind umgestellt, damit die Geister sie nicht verstehen
Schließlich gelang es mir. Auf der Höhe von 2.300 Metern – ich hätte schwören können, dass ich dort schon gewesen war – stieß ich auf eine Azanguara, ein steinern umzäuntes Viehgehege. Den örtlichen Mythen zufolge waren diese Gehege ein Werk der Zwerge, die in Abchasien lebten, bevor die Menschen dorthin kamen. Die Zwerge lebten in Häusern aus Farnblättern, versteckten sich in dem Schatten, den der Bart einer Ziege warf, und züchteten Vieh.
Ich kannte Abchasier, die fest daran glaubten. In ihren Dörfern waren sie vernünftige Leute, aber wenn sie in die Berge gingen, verwandelten sie sich in Hinterwäldler und redeten ein besonderes Abchasisch, 'Waldabchasisch', bei dem die Reihenfolge der Wörter umgestellt wurde, damit die Geister der Umgebung sie nicht verstanden.
Die Azanguara war von eine dicken Schicht Weihgaben bedeckt: Münzen, Perlen, Kreuzen und kleinen, mit Bildern von Sonne, Mond und Sternen verzierten Hörnerspitzen. Sie sahen persisch aus, stammten vielleicht aus dem 11. bis 15. Jahrhundert. Ich steckte ungefähr hundert davon in meinen Rucksack. Zwar wusste ich, dass man an solchen Orten nichts berühren sollte, aber die Archäologie ist eine Art Krankheit. Es juckt einen immer in den Fingern, irgendetwas mitzunehmen.
Als ich herunterkam, wussten die Hirten es schon. 'Du hast ihn gefunden', stellten sie zur Begrüßung fest. Es hatte plötzlich gehagelt (als ich im Swiatilischtsche gewesen war, war für einen Moment das Wetter umgeschlagen) und ein alter Mann aus einem nahen Dorf, er hieß Maadan Barcyc, hatte ihnen gesagt: 'Stanislaw hat den Ort gefunden.'
Zurück in Suchumi wurde ich sehr krank und niemand konnte sagen, was mir fehlte. Meine Werte waren alle gut, aber ich konnte weder Hand noch Fuß bewegen. Eines Tages kamen Jura Woronow und unser Freund Wowa Lewintas mich besuchen. Ich erzählte ihnen von der Azanguara.
Sie wollten sie unbedingt auch sehen, und als es mir etwas besser ging, machten wir uns zu dritt auf den Weg. Ich nahm die Hörnerspitzen mit und legte sie still und heimlich – denn ich hatte Angst, sie würden mich auslachen – an ihren Ort zurück. Auf dem Weg nach unten meinte Jura, diese Swiatilischtsche seien dummes Zeug und Aberglauben, wer hätte so etwas schon gehört, und das im 20. Jahrhundert. Im selben Augenblick – und wir gingen alle nebeneinander – warf eine unbekannte Kraft ihn in die Höhe und schleuderte ihn zu Boden. Er war ganz zerschunden und seine nagelneue amerikanische Jeans – das Objekt unserer Begierde – hing in Fetzen an ihm herunter.
Danach war ich wieder gesund.“
[…]
Die Kinder werden von Geburt an mit schönen Dingen umgeben
Lawriks Mutter hat uns königlich bewirtet. Es gab Mamalyga mit Erbsen, Käse, eine pikante Sauce zum Eintunken des Brotes, viel Wein und Tschatscha.
Zu viel. Jetzt kann ich nicht schlafen.
Der Mond beleuchtet das Gehöft – den Holzschuppen, die Apazcha – das aus Weidenzweigen geflochtene Haus – und die Grabhügel der Vorfahren. Lawriks Vater ist 55 geworden, auf dem Grabbild trägt er Uniform. Die Cousins haben auch kein hohes Alter erreicht. Richtig, Lawrik erwähnte etwas von einem Familienfluch. Aber mehr ließ er sich nicht entlocken. Nur, dass es für die Abchasier schlimmer als der Tod selbst sei, wenn ein Verstorbener nicht beerdigt werde. Deshalb gaben sie den Georgiern im Krieg auch für eine Leiche bis zu zehn Kriegsgefangene zurück.
Das schwarze Bullenkalb hat warme Hörner. Überhaupt ist es warm, obwohl das hier die Berge sind und eine Nacht mitten im Dezember. Drei Kühe schlafen bei der Hecke. Ein Büffelschädel, auf einen Pfahl gespießt, beobachtet die Umgebung. Wie durch ein Wunder quietscht die Pforte nicht. Die Oberflächenstruktur des Weges ist deutlicher sichtbar als am Tag. Bei der Mühle geht ein schmaler Pfad ab und führt bergauf. Hinter den letzten Gehöften ist eine Lichtung, auf ihr ein umgestürzter Baum. Dort kann man sich setzen.
Ich habe mir die von Lakoba herausgegebene Istorija Abchazii [Geschichte Abchasiens] mitgenommen. Auf solche Ideen kommt man nur in angetrunkenem Zustand. Im Mondlicht lese ich, dass die Kinder hier von Geburt an mit schönen Gegenständen umgeben werden, auch in Bauernfamilien (in Abchasien stehen die Ahnenreihen der Bauern denen der Fürsten in nichts nach). Ich markiere mir die Stelle und gehe zum Haus zurück.
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Der Schauspieler Lawrik Achba beschreibt einen Kreis in der Luft: „Auf der einen Seite ist das Meer, auf der zweiten die Berge, auf der dritten die Georgier und auf der vierten die Russen. Wohin, zum Teufel, sollen wir denn?“
Der Kriegshafen, dem Lawrik immer noch vorsteht, ist jetzt Teil des Grenzschutzsystems geworden, das der russische Inlandsgeheimdienst geschaffen hat. Lawrik gefällt das nicht. Er sagt, wenn sie ihm auf die Zehen treten, schlägt er zurück. Geht in den Untergrund. Stellt eine Partisanentruppe auf. Er würde schießen. Ich weiß, dass er keinen Scherz macht.
Wir schweigen. Was gäbe es auch noch groß zu reden. Es tut gut, zu schweigen, ohne Worte mit den Gläsern anzustoßen. Und auf die Matschara zu starren, die von Jassotschki herüberfließt.
Lawrik hat ein Restaurant am Fluss ausgesucht, eigentlich über dem Fluss: Statt eines Gastraums gibt es hölzerne, auf Pfählen befestigte Plattformen, zwischen diesen Plattformen sind Stege, die Gäste an den anderen Tischen sieht man aber kaum, denn das Laub der Bäume auf beiden Seiten des Flusses verflicht sich und verdeckt die ganze Konstruktion, während das Rauschen des Wassers es unmöglich macht, anderen Gesprächen zu lauschen (der Kellner wird mit einem Klingelknopf gerufen). Die kaukasischen Restaurants bestehen oft in einer Reihe einzelner, geschlossener Gasträume, aber so eine Erfindung sehe ich zum ersten Mal; der, der sich das ausgedacht hat, muss einiges an Phantasie gehabt haben.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes