Der letzte Held des Warschauer Ghettos
Dünne, schmutzige Menschen klettern aus einem Abwasserkanal ans Licht, einer nach dem anderen. Sie riechen nach Gosse und wanken vor Erschöpfung. Es ist zehn Uhr morgens. Kazik Ratajzer, der die Fluchtaktion organisiert hat und nun oben an der Straße steht, spricht ihnen Mut zu, treibt sie an, weiterzugehen. Der Schacht, durch den die 40 Juden nach oben kriechen, liegt unter der Prosta-Straße, nur 100 Meter von der deutschen Wache entfernt. Als nächstes klettern sie in einen Lastwagen. Am Steuer sitzt Kaziks polnischer Bekannter, ein Mitglied der kommunistischen Untergrundbewegung. Sie fahren durch ein Viertel, das „nur für Deutsche“ ist, raus aus der Stadt, rein in den Wald.
Es ist der 10. Mai 1943. General Jürgen Stropp, der zuständig ist für die Niederschlagung des Aufstands, muss in seinem Bericht vermerken, dass ein paar Aufständische, „Banditen“, wie er sie nennt, geflohen sind, darunter auch Anführer des Ghetto-Aufstands. Am 19. April haben sie sich im Warschauer Ghetto gegen die deutsche Besatzungsmacht erhoben. Sie hatten kaum Waffen und lieferten sich dennoch erbitterte Straßenschlachten mit den Besatzern.
70 Jahre später befindet sich der Eingangsschacht zum Kanal immer noch an derselben Stelle. Als Simcha Rotem hineinschaut, stinkt es, es ist beängstigend eng und dunkel, wie damals. Oben, auf der Straße, gibt es keine Wächter mehr, sondern moderne Bürohäuser. Wenige Meter weiter erinnert ein Denkmal an das Geschehen vor 70 Jahren.
Simcha Rotem beim Gedenktag zum 70. Jahrestags des Aufstands im Warschauer Ghetto / Agnieszka Hreczuk, n-ost
Zwei Namen, zwei Leben
Der 89-jährige Simcha Rotem bleibt vor einer der drei Gedenktafeln bei dem Denkmal stehen. Sein Blick wandert auf die Namen derjenigen, die es damals geschafft haben, und derjenigen, die unten geblieben sind: Einige hatten sich in Seitenkanälen verirrt. Als sie rauskamen, war der LKW schon weg. Stattdessen standen Deutsche da, die jüdischen Kämpfer wurden erschossen.
Sein eigener Name steht ganz oben: „Simcha Kazik Ratajzer-Rotem“. Zwei Namen, zwei Leben. Rotem ist erst nach dem Krieg, in Israel „neugeboren“, wie er sagt. Im früheren Leben, in Polen, hieß er Szymon „Kazik“ Ratajzer. Kazik war ein Pseudonym, ein beliebter polnischer Name, den ihm seine Kameraden verliehen hatten. Bis heute nennt ihn kaum jemand bei seinem Geburtsnamen.
1943 war Kazik Ratajzer eines der Stabsmitglieder der Jüdischen Kampforganisation (ZOB), die den Ghetto-Aufstand mit plante und ausführte. Heute ist er der Letzte aus diesem Kreis, der noch lebt. „Ich fühle mich nicht als Held“, sagt er. Nach dem Krieg, in Israel, habe sich niemand für die überlebenden Kämpfer interessiert. Der Aufstand habe mit einer Niederlage geendet. Kein Grund, stolz zu sein.
Das Ziel war ein „leichterer Tod“
„Auf den Sieg haben wir nie gehofft“, sagt Simcha Rotem heute. „Es ging uns nicht um den 'ehrenhaften Tod', wie viele heute denken. Mutig waren auch die Menschen, die im Konzentrationslager in Treblinka umkamen. Oder diejenigen, die im Ghetto verhungerten. Wir wollten nur die Art des Todes wählen – eine leichtere, als die in einer Gaskammer.“
Am besten erinnert sich Simcha Rotem an den ersten Tag des Aufstands, den 19. April: Als die deutschen Truppen durch ein neben seinem Posten gelegenes Tor ins Ghetto wollten, explodierte eine Mine, die die Aufständischen vorher vor dem Tor versteckt hatten. Nach der Detonation sah er einige tote Soldaten und die restlichen, die wegrannten. „Ich habe zum ersten Mal gesehen, wie Deutsche vor Juden flüchten!“
Seit Jahren quäle ihn eine Frage, verrät er. Nämlich, ob sie das Recht hatten, auch für die anderen im Ghetto zu entscheiden. „Der Tod drohte uns allen, aber vielleicht wollte jemand noch einen Tag länger leben?“, sagt er langsam. „Vielleicht hätte jemand aus dem Ghetto flüchten können?“ Diese Gedanken kamen erst mit der Zeit.
Polnische Retter
Zum ersten Mal sah er die deutschen Besatzer auf einer Siegesparade in Warschau, im Oktober 1939. Bald musste jeder Jude vom Bürgersteig herunter und seine Mütze abnehmen, sobald er einem Deutschen begegnete. „Einen SS-Mann oder Soldaten machte seine Nationalität zum Herrn über Leben und Tod. Der Jude war wie ein Wurm, den man niedertreten konnte. Ich weiß nicht, ob das nicht schlimmer war als der Hunger im Ghetto“, sagt Simcha Rotem. „Jemand, der es nicht erlebt hat, kann sich dieses Gefühl nicht vorstellen.“
Im Herbst 1939 begannen die Okkupanten mit dem Ghettobau. Bis zu 540.000 Juden wurden auf drei Quadratkilometer Fläche gepfercht. Jeder, der versuchte, zu fliehen, sollte die Todesstrafe bekommen. Gleiches drohte jedem, samt Familie, der Juden half, indem er sie versteckte oder mit Essen versorgte. Die Menschen im Ghetto waren so hungrig, erzählt Simcha Rotem, dass sich Hunderte freiwillig zur Arbeit nach Treblinka meldeten, weil die Deutschen ihnen dafür etwas Brot und Marmelade versprachen. An den Holocaust wollten die Leute lange nicht glauben. „Wie soll ein Mensch verstehen, dass ihn jemand umbringen will, obwohl er nichts Schlimmes getan hat?“, sagt Simcha Rotem.
Eigentlich hätte Kazik Ratajzer eine Chance gehabt, außerhalb des Ghettos zu überleben. Ein Foto zeigt einen Jungen mit hellen Augen und blonden Haaren. Ein selbstbewusster Blick, ein schelmisches Lächeln. „Ein Junge aus Czerniakow war ich“, sagt Simcha Rotem heute. Ein „Czerniakower“ war ein Ur-Warschauer, ein selbstsicherer Draufgänger. Kazik Ratajzer war ein assimilierter Jude, angepasst an die nichtjüdische Mehrheit im Warschauer Stadtteil Czerniakow. Die Mutter sah so slawisch aus, dass alle sie für eine Polin hielten. Kazik sah ihr sehr ähnlich. Von seinen Czerniakower Kumpeln hat er die Selbstsicherheit und den Dialekt übernommen. Er sah aus wie ein Slawe und sprach wie ein Warschauer.
Seine Lebensfreude hat Simcha Rotem nie verloren /
Agnieszka Hreczuk, n-ost
Die Rückkehr ins Ghetto
Die meisten Juden in Polen waren anders. Sie lebten nach der jüdischen Tradition, sprachen kaum Polnisch. „Es war wichtig, wie man aussah und sprach, aber auch, wie man sich verhielt“, erzählt Simcha Rotem. „Ich habe schon von weitem erkannt, wer Jude war: Er guckte fieberhaft um sich herum, lief unsicher und schnell, wie ein gejagtes Tier. Man fühlte sich so, wenn man die ganze Zeit im Versteck oder im Ghetto lebte.“
Kurz nachdem die Ratajzers 1940 im Ghetto eintrafen, flüchtete Kazik und arbeitete in einem Dorf für Polen, die so taten, als ob sie nicht bemerkt hätten, dass er Jude ist. Erst Ende 1942 kehrt er zurück, als auch im Dorf ein Ghetto errichtet wurde. Dort sah Kazik zum ersten Mal, wie ein Deutscher einen Juden, der nicht ins Ghetto wollte, erschoss. Im Warschauer Ghetto lebten damals nach der Massendeportation nur noch knapp 50.000 Menschen.
Im Ghetto schloss sich Kazik der Jüdischen Kampforganisation ZOB an. Dank seines Aussehens konnte er sich unauffällig auf den Warschauer Straßen bewegen. Er pflegte Kontakte zur polnischen Untergrundbewegung und besorgte auf dem Schwarzmarkt Gewehre. Das Geld erpressten sie vom Judenrat, jüdischen Kollaborateuren und reichen Juden im Ghetto. Er gewann auf der „arischen“ Seite Freunde, die ihm halfen. Ihre Namen erwähnt er immer, als ob sie wichtiger wären, als er selbst.
„Gerechte unter den Völkern“
„In Polen drohte die Todesstrafe, wenn man Juden half. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mein Leben und das meiner Familie für einen fremden Menschen riskieren würde“, sagt er. Fast 30.000 Juden waren in Warschau während der Okkupation versteckt. Auch Kazik versteckte seine Familie bei polnischen Bekannten. Ihm selbst halfen zwei polnische Schwestern und deren Neffe, der später erschossen wurde. Während die einen die Juden retteten, verrieten die anderen sie. Einige von Kaziks Kollegen kamen so ums Leben. Für seine Retterinnen und Retter sollte Kazik Ratajzer nach dem Krieg den Titel „Gerechte unter Völkern“ in Yad Vashem beantragen, genauso wie für die Polen, die ihm damals bei seiner Kanal-Aktion halfen.
Am 10. Mai, auf der Prosta-Straße, führt Kazik die letzte Gruppe der Kämpfer aus dem Ghetto. „Der jüdische Wohnbezirk existiert nicht mehr“, schreibt Jürgen Stroop wenige Tage später. Am 16. Mai, um 20.15 Uhr, sprengt er die große Synagoge von Warschau in die Luft. Der Aufstand ist niedergeschlagen.
Ein Jahr später, am 1. August 1944 stand Kazik Ratajzer wieder mit der Pistole in der Hand den Besatzern gegenüber, beim Warschauer Aufstand. Er wollte für seine getöteten Freunde kämpfen. Wieder überlebte er, genauso wie seine Mutter, sein Vater und eine seiner beiden Schwestern. Die andere verschwand während des Aufstandes, als sie nach ihm suchte.
Wiedersehen der Widerständler
„Ich bin nicht rachsüchtig“, sagt Simcha Rotem aus Israel. Kazik wollte dagegen nach dem Krieg Rache nehmen. Mit anderen Juden hatte er den Plan, inhaftierte SS-Wächter zu vergiften. Der Plan misslang. „Leider“, sagt Simcha heute hart. „Sie hätten die Todesstrafe verdient.“ Es gab keine Gerechtigkeit, sagt er: „Viele von ihnen lebten ruhig bis an ihr Lebensende – während so viele Juden oder Polen von ihnen getötet worden waren.“
Nach dem Krieg wanderte er aus nach Israel, wo er zu Simcha Rotem wurde. Das erste Mal kehrte er 1963 nach Polen zurück, zum 20. Jahrestag des Aufstandes. Er flog hin, ohne Ankündigung. In dieser Zeit waren Kontakte nach Polen nicht einfach. Und dann standen sie da, am Flughafen: Wegbegleiter aus den Tagen des Widerstand, wie Marek Edelman, und warteten, um Kazik zu begrüßen. Seitdem sei es wie ein Zwang, sagt Simcha Rotem. Er muss immer wieder kommen.
Kazik Ratajzer hat gehofft, dass Juden im eigenen Land, in Israel, nie Angst haben müssen. Er hatte nicht vermutet, dass er selbst noch mehrmals einberufen würde und auch seine drei Söhne kämpfen würden. Als Simcha Rotem, Manager einer Laden-Kette, hielt er sich an eine Regel: Alle Mitarbeiter werden gleich behandelt, egal ob Juden oder Araber.
„Meine einzige Lehre aus der Zeit ist, dass das Leben die wertvollste Sache auf der Welt ist, die niemand dem anderen wegnehmen darf“, sagt er und fügt hinzu: „Ich hoffe, wir begreifen das irgendwann endlich.“