Erfolgsmodell Baltikum
Es ist ein sonniger Maitag in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Eine Schulklasse steht für ein Foto vor dem weißen Präsidentenpalast. Die Lehrerin erzählt ihren Schülern das Neueste über Dalia Grybauskaite. Das ganze Land ist stolz, dass seine Präsidentin jetzt mit dem Aachener Karlspreis ausgezeichnet wird. „Sie ist eine resolute Frau und hat uns schnell aus der Krise geführt. Dafür wird sie in ganz Europa geschätzt“, sagt die Lehrerin. „Ich hoffe, dass wir sie noch lange als Präsidentin behalten werden.“
Dalia Grybauskaite wird in Aachen vor allem für ihren harten Sparkurs geehrt. Litauen stürzte 2009 in eine schwere Wirtschaftskrise. In nur eineinhalb Jahren hat sich das Land wieder erholt, bemerkt die Präsidentin nicht ohne Stolz. Deshalb verstehe sie die deutsche Auszeichnung auch als Tribut an das litauische Volk, das bereit war, den bitteren Preis für die schnelle Erholung zu zahlen, sagt sie im Gespräch mit dieser Zeitung. „Aber der Karlspreis ist auch eine Hommage an unsere baltischen Nachbarländer. Wir drei haben es nahezu aus eigener Kraft geschafft, ohne große Finanzspritze von der EU wieder auf die Beine zu kommen.“
Beamten-Gehälter wurden drastisch gekürzt, Subventionen gestrichen
Wolkenkratzer in der Hauptstadt Vilnius und zahllose Neubaugebiete am Stadtrand zeugen vom einstigen Wirtschaftsboom. Der begann in allen drei baltischen Ländern mit dem Beitritt zur Europäischen Union. Über skandinavische Banken wurden viele Milliarden Euro in die Wirtschaft der ehemaligen Sowjetrepubliken investiert. Doch die internationale Finanzkrise hatte den Geldfluss plötzlich gestoppt.
Während Estland auch in den Boomjahren gespart hatte, hatte Litauen kurz vor Ausbruch der Krise sogar noch die Renten erhöht. Anders als der lettische Nachbar war Litauen jedoch niemals vom Staatsbankrott bedroht, sagt Raimondas Kuodis von der Litauischen Zentralbank. „Litauen hinkte mit seiner Gesetzgebung ein wenig hinterher und hat den Banken erst ein Jahr später als Lettland erlauben können, freizügig Kredite an jedermann zu vergeben. Deshalb war unsere Immobilienblase nicht so riesig und es haben sich nicht so viele überschuldet.“
Trotzdem musste auch Litauen die Notbremse ziehen: Die Gehälter im öffentlichen Dienst wurden um zehn Prozent gekürzt und staatliche Subventionen gestrichen. Lettland stand sogar vor dem Staatsbankrott und erhielt einen Milliardenkredit von der EU und dem Internationalen Währungsfond (IWF). Den hat das Land vor der Frist bereits vollständig wieder zurückgezahlt – allerdings nur dank eines strikten Sparkurses: Zehntausende wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen und alle Gehälter um 20 Prozent gekürzt. Die Folgen sind allerdings dramatisch: „Die Intelligenz hat die öffentliche Verwaltung verlassen“, klagt der lettische Soziologe Valts Kalnins, „unsere fähigsten Leute gehen an die Privatwirtschaft verloren.“
Viele Balten verlassen ihre Länder wegen schlechter Löhne
Überall in Lettland wurden Krankenhäuser und Schulen geschlossen. Zahllose Unternehmen mussten Konkurs anmelden und tausende hochverschuldete Hausbesitzer haben alles verloren. Viele tauchten ab in die Illegalität und arbeiten schwarz, andere suchten ihr Glück bei Freunden im Ausland. Auf der Suche nach besseren Löhnen waren Hunderttausende bereits nach dem EU-Beitritt nach Irland oder Großbritannien ausgewandert. Mittlerweile steht aber auch Deutschland hoch im Kurs. Es sind gerade die arbeitslosen Ärzte oder Krankenschwestern, die seit 2011 auch bei uns einen Job annehmen dürfen.
Viele Balten allerdings bewältigen die Krise aus eigener Kraft. „Wir jammern eben nicht so viel wie andere europäische Länder“, erklärt der junge IT-Experte Janis Gailis, weshalb Esten, Letten und Litauer anders als Griechen oder Spanier nicht auf die Straße gehen, sondern optimistisch nach vorne blicken. Der Durchschnittsbruttolohn liegt gerade mal bei 633 Euro und ist einer der niedrigsten in der ganzen EU.
Kleingarten statt Supermarkt
Seit der Krise hat es einen Ansturm auf Kleingärten gegeben. Nachdem die Lettin Tatjana Solenkowa mit ihrem Café in die Pleite gegangen war, war sie froh wieder einen Job in der Fabrik zu finden. Heute setzt sie nach Feierabend Zwiebeln und gießt Gurken. „Ich habe gelernt, die Beete zu bestellen und hoffe auf eine gute Ernte“, sagt sie.
Die drei baltischen Länder seien dank ihrer Opferbereitschaft aber nicht nur allein auf die Beine gekommen, sagt die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite, vielleicht könnten sie sogar als Sieger aus der Finanzkrise hervorgehen. Allein die Exportquote stieg seit 2009 in Litauen und Lettland um gut 20 Prozent, in Estland sogar um mehr als 30 Prozent. „Ich bin froh, dass wir unsere europäischen Partner nicht enttäuscht haben“, sagt sie. „Immerhin haben sie uns zum EU-Beitritt ihr großes Vertrauen geschenkt.“
Vor ihrem Palast in der Altstadt von Vilnius stellen sich derweil die Schüler zum Klassenfoto auf. Einige wissen schon jetzt alles über Dalia Grybauskaite. „Unsere litauische Präsidentin kann Vorbild für uns junge Leute sein“, sagt eine Abiturientin. „Denn wir sehen, dass nicht nur Männer starke Präsidenten sein können, sondern auch Frauen.“