Dalia Grybauskaite, die kalte Präsidentin
Am 9. Mai hat die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite den Karlspreis der Stadt Aachen erhalten. Sie sei eine der „herausragenden Persönlichkeiten der baltischen Region“ und werde geehrt für ihre „bedeutenden Verdienste um eine vertiefte Integration der Europäischen Union und die Bewältigung der aktuellen Krise“, heißt es in der Begründung.
Dalia Grybauskaite wird in Aachen auch stellvertretend für die Erfolge des gesamten Baltikums gewürdigt. Schließlich gelten die drei baltischen Länder Litauen, Lettland und Estland im Westen Europas als Musterstaaten, die die Finanzkrise durch diszipliniertes Sparen und weitgehend aus eigener Kraft überwunden haben.
Eine Ex-Kommunistin als Karlspreisträgerin? Für viele Litauer unverständlich.
Doch aus der Innenperspektive sieht vieles anders aus. Ich behaupte: Die Litauer, die für gute Arbeit seit alters her das Synonym „deutsche Ordnung“ verwenden, haben Anlass, die Rationalität der Deutschen in Frage zu stellen. Oder zumindest das Karlspreisdirektorium, das Grybauskaite als Preisträgerin ausgewählt hat.
Das Kuratorium betont die historische Rolle der baltischen Länder, deren „Selbstbehauptungswille“ nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auf „beeindruckende Weise triumphiert habe“. Doch gerade weil Litauen sich rühmt, vor über zwanzig Jahren das sowjetische Imperium zu Fall gebracht zu haben, ist es unverständlich, dass ausgerechnet Dalia Grybauskaite mit dem Karlspreis geehrt wird.
Der älteren Generation ist noch gut im Gedächtnis, wie sich die spätere Präsidentin bis zum Zerfall der Sowjetunion an den Rockzipfel der kommunistischen Partei klammerte. Dass mit ihr nun ausgerechnet eine ehemalige Lektorin der kommunistischen Parteischule in einer Reihe mit Konrad Adenauer, Angela Merkel und erklärten Anti-Kommunisten wie Johannes Paul II. oder Vaclav Havel stehen soll, ist für viele Bürger des ehemaligen Ostblocks unbegreiflich.
Abschied von europäischen Werten
Auch die Behauptung des Karlspreis-Direktoriums, Grybauskaite habe das Baltikum der EU näher gebracht und dafür gesorgt, dass Litauen die schwere Wirtschaftskrise aus eigener Kraft bewältigte, entspricht aus meiner Sicht schlicht nicht der Realität.
In den knapp vier Jahren, in denen Grybauskaite das Land führt, ist Litauen Europa keineswegs näher gekommen – sondern entfernt sich sogar von europäischen Werten, zum Beispiel dem Ideal einer offenen Gesellschaft. Unbedingte Loyalität zur Präsidentin ist Grybauskaites wichtigster politischer Wert. Und die Beziehung zu manchen europäischen Nachbarn, allen voran Polen, hat sie seit ihrem Amtsantritt im Jahr 2009 gründlich verdorben.
Hinzu kommt: Auf die Fiskalpolitik ihres Landes hat Grybauskaite als Präsidentin so wenig Einfluss wie in Deutschland der Bundespräsident. Und selbst wenn sie Einfluss gehabt hätte, so wäre sie ein eher schlechtes Vorbild: So ist seit dem Ausbruch der Krise 2008 die Auslandsverschuldung Litauens von knapp fünf Milliarden auf 15 Milliarden Euro gestiegen. Weil die Schulden für sehr hohe Zinsen aufgenommen wurden, nähern sich alleine die Kosten für die Bedienung der Schulden einer Milliarde Euro pro Jahr. Das Defizit des staatlichen Rentenfonds stieg von Null auf drei Milliarden Euro – auf genau so viel, wie jährlich an die Rentner ausgezahlt wird.
Sie ist trotz oder gerade wegen ihres autoritären Führungsstils beliebt
Bis zur Krise versuchte Litauen, mit Estland – dem Vorreiter der baltischen Länder – mitzuhalten. Doch jetzt beginnt das Land sogar Lettland hinterherzuhinken, das während der Krise die Unterstützung vom IWF in Anspruch genommen hatte. Immer mehr Litauer sehen keine Perspektive mehr in ihrem Land. Während Grybauskaites Amtszeit sind 250.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter aus Litauen emigriert, die Geburtenzahlen sind dramatisch geschrumpft. Der Bevölkerungsschwund gleicht in einem Land mit weniger als drei Millionen Bewohnern den Kriegsverlusten im Zweiten Weltkrieg.
Allerdings ist die ehemalige EU-Kommissarin immer noch die populärste Politikerin in Litauen, wenngleich ihre Umfragewerte in der letzten Zeit gesunken sind. Woher kommt die Popularität der moskautreuen Kommunistin, die Grybauskaite sogar während Wiederherstellung der Unabhängigkeit 1990 blieb? Ausgerechnet in dem Land, in dem das Wort „Kommunist“ wie eine Verurteilung klingt? Ganz einfach: Alle Präsidenten vor ihr waren ebenfalls populär, weil sie in ihrer Rolle keinerlei Einfluss auf wirtschaftliche Entscheidungen hatten.
Grybauskaites Aufstieg ist jedoch schwerer zu verstehen. An der Unabhängigkeitsbewegung „Sąjudis“, die die Freiheit Litauens erkämpft hat, war sie nicht beteiligt. Im Gegenteil: Selbst nach 1990 erhielt sie ihr Gehalt und sogar Prämien aus Moskau, dessen Absicht es war, die neue litauische Regierung von Vytautas Landsbergis zu stürzen.
Die Präsidentin selbst schweigt über diese Zeit. Doch wenn sie Reden über Freiheit und Unabhängigkeit hält oder wenn sie die von der sowjetischen Armee ermordeten Patrioten ehrt, fällt es schwer, ihr zu glauben.
Sie verbindet Konservativismus und Liberalismus
Es gibt keine logische Erklärung dafür, warum ihr eigentlicher Gegner Vytautas Landsbergis und seine konservative Partei sie 2009 als Präsidentschaftskandidatin aufstellten. In die große Politik geholt hatte sie schließlich der ehemalige kommunistische Parteisekretär und erste Präsident Litauens Algirdas Brazauskas. Er machte sie 2001 zur Finanzministerin und nach dem Beitritt Litauens zur EU im Jahr 2004 auch zur EU-Kommissarin.
Überhaupt frage ich mich, was sie – eine unpolitische Frau, Bürokratin bis in die Fingerspitzen, die außerdem ihre Verachtung den Parteien, Ideologien und Politik gegenüber demonstriert – ins Amt geführt hat. Als sie einmal gefragt wurde, welche politischen Anschauungen sie vertritt, sagte sie, sie nehme von Konservativismus, Liberalismus und Sozialismus das, was nützlich sei.
Vielleicht wird sie gerade deswegen geliebt, weil die Mehrheit der Litauer nostalgisch ist und sich nach einer harten Hand sehnt. Grybauskaite verhält sich ähnlich wie der russische Präsident Wladimir Putin, schreibt der Politologe Lauras Bielinis in seiner Biografie über die Präsidentin. „Sie verkörpert ein geschlossenes System politischer Entscheidungen, wenn eine Person selbst zur Institution wird und die Institution die Merkmale einer staatlichen Struktur verliert.“
Die Beziehungen zu den Nachbarländern sind auf einem Tiefstand
Dalia Grybauskaite ist keine politische Führungspersönlichkeit. Die einzige Sache, über die sie verfügt, sind ihre hohen Umfragewerte. Als Bürokratin erkennt sie nur die Vertikale der Macht an. Sie selbst bezeichnet sich als Garantin der Verfassung, obwohl die Verfassung Litauens dem Präsidenten einen solchen einen Status gar nicht gewährt. Doch kein Politiker hat darauf reagiert.
Alle haben Angst vor ihrer Rache und ihren Spezialbehörden. Sie hat den Staatssicherheitsdienst von einem Nachrichtendienst zum Gerüchteverbreiter verwandelt. So drang vor den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr eine Aufnahme an die Öffentlichkeit, in der sich die damalige Parlamentspräsidentin Irena Degutiene beschwerte, dass ihre Gespräche heimlich aufgenommen werden.
Grybauskaite ist misstrauisch, und sie erträgt keine Kritik. Nach ihrer Wahl zur Präsidentin ließ sie 160 alte Fichten um ihre Residenz herum abschlagen, einen Zaun aufstellen und mit schussfesten Fenstern versehen. Sie gibt keine politischen Empfänge, angeblich um zu sparen und den Haushalt zu schonen. Doch der tatsächliche Grund ist ihre Abneigung gegen den Umgang mit Menschen. Ihre Körperhaltung schreit geradezu: „Bleibt mir vom Leib“.
Noch nie waren die außenpolitischen Beziehungen Litauens so schlecht wie heute. Von Anfang an kritisierte Grybauskaite die Nachbarschaftspolitik mit den östlichen Anrainerstaaten der EU als „Freundschaft mit den Armen“, die ihr Vorgänger Valdas Adamkus gemeinsam mit Polen vorangetrieben hatte.
Grybauskaite versprach ursprünglich gute Beziehungen mit Russland und den skandinavischen Ländern, die für das Baltikum auch als Investoren eine wichtige Rolle spielen. Doch die Beziehungen mit Moskau hat sie in ihrer Amtszeit nicht verbessert, und für die Skandinavier ist unser Land weiter uninteressant.
Die Beziehungen zum Nachbarn Polen und zu den USA sind inzwischen stark beschädigt. So sorgte Grybauskaite für Irritationen, als sie 2010 eine Einladung von US-Präsident Barack Obama nach Prag ablehnte. Ständig wiederholt sie, dass die Beziehungen zu Polen und den USA eine Pause verdient hätten.
Im April 2012 lehnte sie als einzige der drei baltischen Präsidenten eine Einladung des polnischen Präsidenten Bronislaw Komorowski nach Warschau ab.Sie beschuldigt Polen, dass es sich Russland angenähert und Litauen zum Sündenbock gemacht habe. Selbst die belarussischen Dissidenten des Regimes von Alexander Lukaschenko, die zu Tausenden in Litauen Zuflucht suchen und dort sogar eine eigene Exil-Universität unterhalten, tadelte sie im vergangenen Herbst als „Agenten des Kreml, die einfach nach mehr Geld streben“.
Dieses seit vier Jahren andauernde Public-Relations-Theater hätte ebenso eine Pause verdient. Doch vom Aachener Rathaus aus ist dies alles anscheinend nicht zu sehen.
Aus dem Litauischen von Aukse Bruveriene, n-ost