Neue Hoffnung für Julia Timoschenko
Die ukrainische Regierung griff nach jedem Strohhalm, den die Straßburger Richter in Reichweite gelassen hatten. Von einer politischen Motivation im Fall Julia Timoschenko sei in dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) „unseres Wissens nirgendwo die Rede“, teilte die Kanzlei von Ministerpräsident Mykola Asarow auf Anfrage mit.
Die eigene Niederlage zu kaschieren, gelang allerdings nicht. Selbst regierungsnahe Medien in Kiew sprachen von „politisch motivierter Haft“. Timoschenko ließ noch am Dienstagabend aus ihrer Zelle im ostukrainischen Charkiw wissen: „Der EGMR hat mich praktisch als politische Gefangene anerkannt.“
Das Urteil macht klar: Die Haft ist politisch motiviert
Kurz zuvor hatte die 52-Jährige vor dem Straßburger Gericht so etwas wie ihre persönliche Auferstehung erlebt. Wenige Tage vor dem orthodoxen Osterfest in der Ukraine gewann die inhaftierte Oppositionsführerin erstmals einen Prozess gegen die Justizbehörden ihres Landes und damit auch gegen ihre politischen Erzrivalen, den autoritären Präsidenten Viktor Janukowitsch und seinen Vertrauten Asarow. Der EGMR entschied, dass die ehemalige Regierungschefin „willkürlich und aus sachfremden Motiven“ inhaftiert worden sei.
Sind sachfremde Beweggründe automatisch politische Motive? Diese Interpretation liegt nahe, da genau um diese Frage in dem Prozess gestritten wurde. Die EU und die USA hatten die Inhaftierung Timoschenkos von Anfang an als politisch motiviert eingestuft. Zugleich ist es ein offenes Geheimnis in Kiew, dass die ukrainische Justiz aus dem Präsidentenpalast heraus gelenkt wird. Timoschenko verbüßt seit 2011 eine siebenjährige Gefängnisstrafe wegen Amtsmissbrauchs, weil sie als Ministerpräsidentin einen angeblich illegalen Gasvertrag mit Russland unterzeichnet hatte.
Die Opposition rechnet mit einer schnellen Begnadigung
Die Anhänger der 52-Jährigen feierten in Kiew mit einem Sieg in den Mai hinein. Am Telefon aus Straßburg erklärte ihr Anwalt Sergei Wlasenko dieser Zeitung: „Das ist ein entscheidendes Signal an die ukrainische Führung, an die EU und an die Welt.“ Er forderte die sofortige Freilassung seiner Mandantin.
Unmittelbare Auswirkungen auf Timoschenkos Lage hat der Richterspruch allerdings nicht. Der EGMR überwacht und bewertet zwar die nationale Rechtsprechung der Mitgliedstaaten des Europarates, kann deren Urteile aber nicht korrigieren und somit auch nicht Timoschenkos Freilassung anordnen. Wlasenko betonte, dass „ohnehin alles von Janukowitsch persönlich abhängt“.
Dennoch weckt das Straßburger Urteil neue Hoffnung im Lager der ukrainischen Opposition. Er rechne mit einer schnellen Begnadigung Timoschenkos noch vor dem EU-Osteuropa-Gipfel in Vilnius im November, hatte ihr Parteifreund Mykola Tomenko in Erwartung des Richterspruches gesagt.
Klitschko fordert umgehende Freilassung
Bei dem Treffen in der litauischen Hauptstadt will die EU mit der Ukraine ein Abkommen über politische Assoziierung und freien Handel unterzeichnen. Brüssel macht allerdings demokratische Reformen in Kiew zur Voraussetzung für den Vertragsschluss. Dem Fall Timoschenko kommt in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu.
Boxweltmeister Vitali Klitschko, der mit seiner proeuropäischen Partei Udar (Schlag) an der Seite der Oppositionsführerin steht, forderte Janukowitsch am Dienstag auf, „das politisch motivierte Urteil gegen Timoschenko zu korrigieren, sie umgehend freizulassen und damit ein klares Signal an die EU zu senden“.
Tatsächlich scheint der Präsident durchaus nicht abgeneigt zu sein, das Hindernis Timoschenko, das der Ukraine den Weg nach Westen versperrt, beiseite zu räumen. Erst vor wenigen Wochen leitete er ein Verfahren zur Begnadigung seiner Widersacherin ein.