Mit Improvisation in Richtung Europa
Die Fahrt über Land bietet schockierende Bilder: Sie geht vorbei an kahlen, ehemals bewaldeten Hügelketten und abbruchreifen Häusern, auf Landstraßen, die so löchrig sind, als wäre gerade ein Granatenhagel über ihnen niedergegangen. Ab und zu sind improvisierte Läden zu erkennen, unter grauen Wellblechdächern versteckt: ein paar Früchte, Plastikflaschen, Fladenbrot. Hunde laufen herum. Wir sind in Georgien, in der Nähe der Hauptstadt Tiflis, jenem Land am Kaukasus, das zu Vorderasien gehört und sich so sehr nach Europa sehnt.
Die Sonne hüllt die Mandelbäume in ein prachtvolles Blütenweiß. Die Leute sagen, der Sommer beginnt, denn einen Frühling gibt es in dem Land zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meer eigentlich nicht. Statt langsamer Übergänge müssen die Menschen mit abrupten Wechseln der Jahreszeiten klarkommen. Man könnte meinen, die klimatischen Extreme schlügen sich in der politischen Landschaft nieder, denn ohne Hang zum Kompromiss stehen sich die gegnerischen Lager gegenüber. Die Georgier, resümiert ein Diplomat, seien ebenso ungeduldig wie unversöhnlich.
Die verwelkte Rosenrevolution
Wenn im Oktober in Georgien ein neuer Präsident gewählt wird, bricht nach der rund zehnjährigen Amtszeit von Staatsoberhaupt Michail Saakaschwili eine neue Ära an. Der neue Präsident wird nach einer Verfassungsänderung weniger Macht haben als der alte. Beobachter meinen, das sei gut so. Selbstherrlich, autokratisch, korrupt: Das sind noch harmlose Umschreibungen für die Amtszeit jenes Mannes, die 2003 mit der „Rosenrevolution“ so vielversprechend begann und die 2008 in einen umstrittenen Krieg mit Russland um die abtrünnigen Provinzen Abchasien und Südossetien mündete.
Das Justizministerium im Zentrum von Tiflis ist ein moderner Bau aus Stahl und großen Glasflächen – eine Architektur, die auch für politische Transparenz stehen soll. Es war Saakaschwili, der die verbreitete Korruption anfangs entschlossen anging und etwa anordnete, alle neuen Polizeigebäude mit einer Glasfront zu versehen. Jeder sollte sehen, was die Polizisten gerade machten. Um die Korruption zu stoppen, griff Saakaschwili zu einer ebenso radikalen wie erfolgreichen Methode: Er entließ sämtliche Polizisten und nahm nur die wieder in den Dienst auf, die nachweisen konnten, dass sie sauber waren. Die durften dann unter stark erhöhten Bezügen die neue georgische Staatsgewalt repräsentieren. Das Modell hat immer noch Vorbildcharakter, aber die früheren Erfolge sind verblasst.
Georgiens Zukunft liegt in der EU
Neue Chefin im Justizministerium ist Tea Tsulukiani. Für die angereisten deutschen Journalisten nimmt sich die 38-jährige Ministerin Zeit. Die kleine Frau ist eine Top-Juristin. Sie hat an der französischen Eliteuniversität ENA studiert und am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gearbeitet. Tsulukiani soll Reformen einleiten, um aus Georgien einen verlässlichen Rechtsstaat zu bauen. Ihrer Ansicht nach gehört Georgien sogar in die EU und in die NATO.
Auf die Frage, wie sie die Amtszeit Saakaschwilis einschätzt, reagiert die zierliche Frau scharf: „Er hat Europa getäuscht und Europa hat sich auch täuschen lassen.“ Tsulukiani wirft dem Präsidenten vor, zahllose Gegner im Land willkürlich gefangen genommen zu haben. In den Gefängnissen sei es zu Folter und Vergewaltigungen gekommen. Mancher politische Mord sei bis heute unaufgeklärt.
Abhängig von Russland
Schließlich wirft sie Saakaschwili auch vor, das Russland-Problem nicht gelöst zu haben. Sie spielt damit auf die abtrünnigen Provinzen an, die völkerrechtlich zu Georgien gehören, aber autonom regiert und von Russland militärisch unterstützt und politisch anerkannt werden. „Zwanzig Prozent unseres Landes sind besetzt“, stellt die resolute Ministerin nüchtern fest und spricht von einer „schwierigen Mission“. Saakaschwili hatte einen strikt pro-westlichen Kurs gefahren und sich von Russland abgegrenzt. Die neue Regierung von Ministerpräsident Bidsina Iwanischwili will nun wieder näher heran an den ungeliebten Nachbarn.
Die Kurswende hat wirtschaftliche Gründe, denn Georgien hängt ökonomisch von den großen Nachbarstaaten Russland und der Türkei ab. Ungut in Erinnerung ist das Embargo von 2006, als die Russen die Einfuhr georgischen Weins und anderer Agrarprodukte verhinderten.
Georgien die „Wiege des Weins“
Vize-Wirtschaftsministerin Ketevan Bochorishvili räumt ein, das Embargo habe Georgien „die größte Krise seit der Wende“ beschert. Bochorishvili malt ein Bild von der heimischen Wirtschaft, das bunter ist als das, was bisweilen draußen zu sehen ist. So sei durch eine vereinfachte Steuergesetzgebung der Schwarzmarkt erfolgreich bekämpft worden, die Korruption sei ebenso eingedämmt wie die Bürokratie. In den kommenden Jahren werde ein Wachstum von sechs bis acht Prozent erwartet. Insbesondere der Tourismus habe enorm zugelegt: Seien 2006 gerade einmal 300.000 Besucher ins Land gekommen, würden aktuell rund vier Millionen gezählt. Experten der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) bescheinigen zudem dem georgischen Agrarsektor „enormes Potenzial“.
Die wirtschaftlichen Hoffnungen Georgiens fußen unter anderem auf Wasser und Wein. So plant die neue Regierung nicht weniger als 50 neue Wasserkraftwerke in den nächsten sieben Jahren. Wasser gibt es in den Bergen ausreichend. Doch ob der Energieexport dann wirklich funktioniert, sei dahingestellt. Beim Thema Wein werden die Georgier schnell romantisch, patriotisch und lyrisch. „Georgien ist die Wiege des Weins“, schwärmen die Produzenten vor Ort und verweisen auf eine 8.000 Jahre währende Tradition. Georgischer Wein ist mitunter dunkel und schwer, aber auch schwer zu vermarkten. Die Konkurrenz ist groß, der Vertrieb kompliziert.
Ein Hesse im Kaukasus
In der Landwirtschaft brauchen die Georgier Starthilfe und sind froh, dass deutsche Experten der GIZ den Kleinbauern in den ländlichen Regionen beratend zur Seite stehen. Der Forstwirt Frank Flasche ist Leiter des GIZ-Programms Biodiversität im Südkaukasus. Mit Anorak und Stiefeln steht der 48 Jahre alte Mann aus Hessen auf einem Acker im Osten des Landes und zeigt auf das Problem. Wo früher Bäume einen natürlichen Windschutz boten, sind nun allenfalls noch Sträucher übrig. Die Leute brauchen das Brennholz, Tierherden ziehen hier durch und fressen die jungen Triebe.
Ein heftiger Wind fegt über die kahlen Hügel, riesige Staubfahnen mit sich führend. Erosion ist die Folge. Der GIZ-Fachmann erklärt den Bauern, wie man in der „Kornkammer Georgiens“ die Saat vor dem Wind schützen kann, das Saatgut effektiv verwendet und die richtigen Maschinen einsetzt, damit die Böden nicht austrocknen.
Mit deutscher Hilfe zur Gehaltserhöhung
Dazu holt Flasche regelmäßig Landwirte aus dem hessischen Ried in die Region, die ihr Wissen von Bauer zu Bauer weitergeben sollen. Gute Böden gibt es genug, aber viele Flächen liegen noch brach. Von den ehemals 1.800 Kilometern Windschutzstreifen sind 95 Prozent weg, bis 2015 sollen nun 100 Kilometer neu entstehen.
Wie immens die entwicklungspolitischen Aufgaben in Georgien nach wie vor sind, zeigt sich auch in der Ortschaft Akura am Rande des Kaukasus. Der örtliche Kindergarten beherbergt bis zu 55 Jungen und Mädchen, die in dem halb verfallenen Gebäude mit eisernen Bolleröfen warm gehalten werden. Tapfer singen, malen und tanzen die Kinder den Gästen aus Deutschland etwas vor und reagieren auf Kommando.
Die Erzieher lernen mit Hilfe der GIZ gerade, was kommunale Selbstverwaltung bedeutet. Erfolgreich erstritten die Erzieherinnen eine Gehaltserhöhung: Nun gibt es 200 Lari im Monat, umgerechnet rund 100 Euro. Eine Begrüßungsformel der Georgier lautet „sei siegreich“; der Sieg der Frauen in der Kita ist eher bescheiden ausgefallen.