Work hard, stay poor: Arbeit in Polen
Flexibilität hat ein Gesicht: junge hochqualifizierte ungebundene Menschen, die um den Globus reisen, um einen attraktiven Job zu ergattern. In Polen hat Flexibilität viele Gesichter, Junge, Alte, Städter, Landbewohner, Geringqualifizierte und High Professionals, Frauen wie Männer. Flexibilität wird in allen Berufen und in allen Lebenslagen gefordert, unabhängig von Klassen- und Schichtzugehörigkeit. Und Flexibilität heißt auf dem polnischen Arbeitsmarkt mehr als Mobilität.
Vollbeschäftigung war mal das Ziel
Nicht nur einfache Arbeiter oder Handwerker verdienen sich etwas auf dem Schwarzmarkt dazu, Krankenschwestern kompensieren die Kürzungen ihres Gehalts durch zusätzliche Betreuung bei Privatpatienten oder Pflege im Ausland und Professoren bessern ihre Bezüge durch Lehraufträge oder nebenberufliche Tätigkeiten auf. Die Fähigkeit, Nischen zu finden, ist in der Gesellschaft weit verbreitet. Die Polen sind stolz auf ihre Improvisationskünste. Dabei haben die Flexibilitätsanforderungen in vielen Bereichen bizarre Züge angenommen.
Polen gehört zu den Ländern mit der höchsten Arbeitslosenquote und der niedrigsten Beschäftigungsrate in der EU. Dies hängt mit dem Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft, mit quasi Vollbeschäftigung, zu einer kapitalistisch organisierten Marktwirtschaft zusammen. Beschäftigte und Sozialpartner gingen zunächst ebenso wie Reformpolitiker und internationale Berater davon aus, dass Erwerbslosigkeit ein temporäres Phänomen bliebe.
Polen und die Arbeitsmigration
Dass dies ein Trugschluss war, haben vor allem die Beschäftigten zu spüren bekommen. Zwar hat sich das Land von dem historischen Höchststand von 20 Prozent Arbeitslosigkeit zu Beginn des Jahrtausends erholt, aktuell liegt die Arbeitslosenquote bei etwa 13 Prozent. Hauptursache hierfür war jedoch die Arbeitsmigration, die mit der Unterzeichnung des Schengen-Abkommens und dem Wegfall der EU-Grenzkontrollen einsetzte. Seit dem Beitritt zur Europäischen Union 2004 haben schätzungsweise 2,5 Millionen Polen das Land auf der Suche nach Arbeit verlassen; zu den Zielländern gehören vor allem Großbritannien, Deutschland und Irland. Die strukturell bedingte Arbeitslosigkeit liegt jedoch immer noch bei etwa 10 Prozent und die Beschäftigungsquote bei nur knapp über 50 Prozent.
Polen geht die Jugend aus
Über vier Millionen Arbeitsplätze fielen seit der Systemwende weg, der Großteil aufgrund der Restrukturierung oder Stilllegung von Industrieunternehmen, ohne dass die Beschäftigungsverluste in Industrie und Landwirtschaft durch ausreichend neue Jobs im Dienstleistungssektor kompensiert werden konnten; Regierung und Wirtschaft vernachlässigten den Arbeitsmarkt – mit dem Ergebnis, dass viele Arbeitssuchende abgewandert sind, gerade auch die jüngeren Polen.
Denn für junge Menschen sieht die Arbeitsmarktlage in Polen besonders dramatisch aus: Unter den 15 bis 24-Jährigen hat nur jeder Vierte einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz. Das Ausmaß der Arbeitsmigration ist mittlerweile für den Facharbeitermarkt und den demografischen Wandel in Polen zum Problem geworden, sodass die polnische Regierung versucht, die Arbeitsmigranten nach Polen zurückzuholen. Der Erfolg jedoch hält sich bisher in Grenzen.
Steigende Ungleichheit
Das durchschnittliche Monatseinkommen 2011 betrug 3.224 Zloty, ungefähr 730 Euro brutto. Die Einkommensschere ging in Polen während der letzten 20 Jahre immer weiter auseinander. Polen befindet sich mit Ländern wie Großbritannien an der Spitze der ungleichen Einkommensverteilung. Insgesamt lebt fast ein Fünftel der Bevölkerung an der Armutsgrenze – oder sogar noch darunter.
Keiner stört sich an der Ungerechtigkeit
Der große Niedriglohnsektor wird im öffentlichen Diskurs nicht als Problem wahrgenommen. Es gibt kaum gesellschaftliche Akteure, die darauf aufmerksam machen. Auch finden sich keine Arbeitsmarktpolitiker, die darauf reagieren. Das einzige zumindest mittelbar wirksame Instrument der Politik, das zur Verbesserung der Situation der Niedriglohnbeschäftigten beitragen könnte, besteht in dem Versuch, den Mindestlohn anzuheben. Allerdings wird das allein nicht reichen, um auch die Armut zu bekämpfen. Der gesetzlich festgelegte Mindestlohn liegt derzeit bei nur 40 Prozent des Durchschnittseinkommens.
Auch das soziale Netz ermöglicht nur ein Leben unterhalb der Armutsgrenze.
Die Polen verdienen aber nicht nur deutlich weniger als ihre deutschen Nachbarn, sie müssen auch länger arbeiten. Die wöchentliche Arbeitszeit in Polen beträgt im Schnitt 43 Stunden, der Urlaubsanspruch liegt bei 20 Tagen für Berufsanfänger und bei 26 Tagen für Beschäftigte mit mehr als zehn Jahren Berufserfahrung.
Arbeit ja, aber befristet
Fast ein Drittel aller Polen arbeitet in befristeten Arbeitsverhältnissen, jeder neue Arbeitsvertrag ist ein befristeter. Dieser hohe Anteil wird in der EU nur von Spanien überboten. Polens Regierung sieht diesen Zustand jedoch positiv, nach dem Motto: Jeder Arbeitsvertrag ist ein guter – vor allem für junge Menschen, die sonst kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten.
Solo-Selbständige und zivilgesellschaftliche Verträge
Ein Fünftel aller Erwerbstätigen arbeitet als Solo-Selbständige, die meisten in zivilrechtlich geregelten Beschäftigungsverhältnissen, mit de facto arbeitnehmerähnlichem Status. Zivilrechtliche Verträge unterliegen nicht dem Arbeitsrecht, somit haben die Sozialpartner keinen Einfluss auf die Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse. Diese auch im EU Vergleich hohe Zahl hängt mit der Restrukturierungspolitik zusammen, die ältere Arbeitnehmer mit relativ hohen Abfindungen verdrängte und besonders Ende der 1990er Existenzgründungen von Arbeitnehmern förderte. Hinzu kommt in den letzten Jahren der Trend, reguläre Beschäftigungsverhältnisse zu kündigen und die Arbeitnehmer als Solo-Selbständige per Werkvertrag zu beschäftigen. So werden Lohnnebenkosten eingespart und der Kündigungsschutz wird umgangen. Mit der Selbstständigkeit steigt auch die Arbeitsbelastung, nach eigenen Angaben arbeiten Selbständige in Polen im Schnitt 56 Stunden die Woche.
Der Mythos vom „unternehmerischen Geist“
Die von vielen als letzter Ausweg betrachtete Selbständigkeit führt selten zu stabilen Einkommen, für die Mehrzahl ist sie sogar der Beginn einer prekären Existenz. Trotzdem unterstützten Politiker und sogar Gewerkschaften die Selbstständigkeit. Der Mythos vom „unternehmerischen Geist“ der Polen, befeuerte den Glauben an die radikale Marktwirtschaft. Mit ihr werden Profit, Fortschritt, Innovation und Wohlstand verbunden. Obwohl dies für viele Selbständige ein Traum geblieben ist, setzen viele Polen diesen Weg fort, manche weil ihre Lebensumstände keinen anderen Weg zulassen, andere freiwillig.
Flexible Krankenschwestern: Bis an die Grenze der Belastbarkeit
Die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen sind seit jeher schlecht, die Belastungen hoch und die Bezahlung gering. Der Gewerkschaft der Krankenschwestern und Hebammen (OZZPiP) ist es jedoch aufgrund massiver Mobilisierung dazu gehörten Hungerstreiks und ein vierwöchiges Sit-in vor dem Parlament gelungen, eine 30-prozentige Lohnerhöhung zu erkämpfen. Die größte Herausforderung ist aber die Privatisierung des Gesundheitswesens. Seit 2008 wird versucht, Krankenhäuser in Aktiengesellschaften umzuwandeln. Nachdem zunächst ein Veto des konservativen Präsidenten Lech Kaczynski das Privatisierungsgesetz abgewendet hatte, verabschiedete das Parlament 2011 ein Gesetz, das erlaubt, öffentliche verschuldete Krankenhäuser zwangsweise zu privatisieren.
Privatisierung des Gesundheitswesens
Private Häuser unterliegen nicht mehr den tarifrechtlichen Bestimmungen des öffentlichen Diensts. So werden Lohnverhandlungen dezentralisiert, was real zu Lohneinbußen führt. Außerdem greifen drastische Sparmaßnahmen: Gerätschaften werden kaum ersetzt, die Arbeitsbelastung steigt, die Zahl der Patienten, die von einer Krankenschwester betreut werden, erhöht sich. Die Pflicht zur Dokumentation aller Tätigkeiten steigt und kostet zusätzlich Zeit. In vielen Fällen wird den Krankenschwestern sogar gekündigt und sie werden als Solo-Selbständige wieder eingestellt. Sie arbeiten nun auf Rechnung und auf eigenes Risiko, ohne Arbeitslosenversicherung oder Rentenvorsorge.
24-Stunden-Schicht
Während die Arbeitszeit einer angestellten Krankenschwester 170 Stunden pro Monat beträgt, müssen selbständige das doppelte Pensum absolvieren. Viele arbeiten 24 Stunden non-stop und gehen anschließend noch in Privathaushalte, wo sie ebenfalls Pflegedienste übernehmen. Bisher macht der Anteil an Solo-Selbständigen nur fünf Prozent aus, aber die Tendenz ist steigend. Da das Gesetz von 2011 erst 2013 umgesetzt werden muss, ist hier noch mit massiven Veränderungen zu rechnen. Flexibilisierung im Gesundheitswesen geht auf Kosten der Versorgung und auf Kosten der Gesundheit des Pflegepersonals. Die Zahl der Burnout-Patienten unter den Krankenschwestern ist dramatisch gestiegen.
Flexible Professoren: Im Dienst mehrerer Hochschulen
Der akademische Betrieb wurde bereits früh der Marktlogik angepasst und an ihm lassen sich beispielhaft die negativen Folgen schlecht durchdachter Flexibilisierung aufzeigen. Viele private Hochschulen wurden gegründet, die auf das Prestige bekannter Professoren angewiesen waren. Gefragte Professoren wechselten aber nicht an Universitäten, die mehr boten, sondern nahmen mehrere Positionen gleichzeitig an. Sie lehrten an fünf, sechs Einrichtungen gleichzeitig. An der Spitze stand ein Professor mit Arbeitsverträgen an 17 Universitäten und Akademien! Die Folge war sinkende Qualität in Forschung und Lehre.
Das Ende der akademischen Polygamie
Seit 2012 hat die polnische Regierung der Mehrfachanstellung von Akademikern einen Riegel vorgeschoben. Zusätzliche Aufgaben neben dem eigentlichen Arbeitsvertrag an einer Einrichtung können jetzt nur für einen befristeten Zeitraum genehmigt werden. Außerdem unterliegen sie arbeitsrechtlich nicht den gleichen Vorteilen wie die „Erstanstellung“: Es werden keine Rentenbezüge und keine Urlaubsgeldansprüche gewährt.
Durch das neue Gesetz haben sich die Einkommensmöglichkeiten für Professoren drastisch verschlechtert. Dennoch wurde nicht dagegen protestiert oder gestreikt. Die Einhaltung wird allerdings auch nicht mit Gehaltserhöhungen belohnt – warum? Die oben genannten Beispiele sind insofern interessant, als sie Flexibilisierung auch in Bereichen zeigen, die lange der staatlichen (Für-)sorge unterstellt waren: Bildung und Gesundheit waren ein öffentliches Gut. Das ist nicht mehr der Fall.
Der flexible Mensch
Die Individualisierung von Problemen und deren Lösung führt auch immer zum Verlust kollektiven Bewusstseins und kollektiver Strategien. Der flexible polnische Arbeiter ist die Kehrseite der neoliberalen Politik, die den Einzelnen glauben lässt, allein Eigeninitiative und individuelles Leistungsstreben würden das erhoffte (finanzielle) Glück bringen. Akademiker treten nicht in Streik für eine angemessene Bezahlung der Ausbildung der Elite von morgen, die prekär beschäftigten Arbeiter sind von den Gewerkschaften enttäuscht und arbeiten lieber anstatt zu protestieren. Allein die Krankenschwestern haben sich politisch mobilisiert und gegen die Privatisierung der Krankenhäuser gekämpft. Sie versuchten, die Auflösung ihrer Arbeitsverträge und die Arbeit als Solo-Selbständige zu verhindern – bislang jedoch ohne Erfolg.
Widerstand in Sicht?
Bisher fehlt ein wirkmächtiger Akteur, der Missstände, schlechte Arbeitsbedingungen und prekäre Lebenslagen anprangert und politisch zu lösen versucht. Ein erstes Anzeichen zur Wende ist die jüngste Koalition der drei nationalen Gewerkschaftsverbände. Sie haben 2011 bereits mehrere Demonstrationen organisiert, gegen die Einfrierung der Löhne im öffentlichen Sektor, für die Anhebung des Mindestlohns und gegen die Ausweitung der befristeten und zivilrechtlichen Beschäftigungsverhältnisse.
Andere gesellschaftliche Akteure, die das neoliberale Ausmaß an Flexibilität anprangern, sind derzeit nicht in Sicht. Einzelne Gruppierungen wie die Krytyka Polityczna, die den Neoliberalismus anprangert, werden nur von einer sehr kleinen Elite gestellt und überhaupt wahrgenommen. Noch überwiegt der weitverbreitete Glaube „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Es bleibt abzuwarten, wie lange noch.
Erstveröffentlicht im „Jahrbuch Polen 2013“ zur Arbeitswelt, herausgegeben vom Deutschen Polen-Institut in Darmstadt.