Großbaustelle Tschernobyl
Maja Rudenko steigt jeden Morgen in den Zug und fährt von ihrer Heimatstadt Slawutitsch in das 50 km entfernte Tschernobyl. An der Grenze der für Besucher gesperrten Strahlenzone zeigt Rudenko dem Soldaten eine Plastikkarte, die sie als Mitarbeiterin des Atomkraftwerks Tschernobyl ausweist.
In Tschernobyl fährt sie mit dem Bus auf das zehn Kilometer entfernte Gelände des Kraftwerkes, passiert eine Luftschleuse und betritt den „Schmutzraum“, wo sie ihre Kleider wechselt. Mit ihrer eigenen Bekleidung darf Rudenko das Gelände nicht betreten, erklärt sie. Meistens trägt sie bei der Arbeit einen Rock und einen Blazer, im Büro stellt sie Informationen über das Kraftwerk zusammen, entwickelt Broschüren und leitet die Mitarbeiterzeitung.
Der Schutzmantel brökelt
Über 1.000 Techniker, Sicherheitsleute und Angestellte arbeiten derzeit im Atomkraftwerk Tschernobyl, dessen 4. Block am 26. April 1986 explodierte. Seitdem muss der Sarkophag um die Reaktorruine ständig ausgebessert werden, damit keine Strahlung austritt. Im Februar brach eine Wand am ehemaligen Atomkraftwerk ein. Auch die anderen drei Blöcke, die 1986 heil blieben, muss das Personal instand halten. „Man kann bei einem Atomkraftwerk nicht einfach das Licht ausschalten und nach Hause gehen“, erläutert Rudenko. Erst im Jahr 2022 soll das Atomkraftwerk endgültig stillgelegt werden.
Rudenko holt ein zwei Zentimeter kleines, schwarzes Kästchen aus ihrer Handtasche. Darin eingearbeitet ist ein silberfarbener Chip, der die Strahlungsdosis misst und einmal pro Monat ausgelesen wird. Die Angestellten dürfen maximal einer Dosis von 1,2 „Biologischen Äquivalent Röntgen“ pro Monat ausgesetzt sein, erklärt Rudenko. Bekommen sie eine höhere Dosis ab, dürfen sie im Kraftwerk nicht mehr arbeiten. Liquidatoren, die kurz nach der Explosion die Trümmer am Reaktor beseitigten, waren pro Tag der 26-fachen Strahlendosis ausgesetzt. In einigen Bereichen des Atommeilers ist die Strahlung immer noch zu hoch. Dort muss Rudenko einen weißen Schutzanzug aus Kunststoff und einen Respirator tragen, ein Atmungsgerät, das aussieht wie eine Gasmaske.
Ruhe für die nächsten 100 Jahre
Sie habe keine Angst um ihre Gesundheit, erzählt Rudenko, die jetzt in einem Kiewer Hotel sitzt. Sie esse viel Obst, nehme Vitamintabletten und rauche sogar täglich. „Wenn ich krank werde, kann ich es auf die Zigaretten schieben“, sagt sie. Die 46-jährige arbeitet seit zehn Jahren im Kraftwerk, den Job habe sie wegen des hohen Gehalts angenommen. In Tschernobyl verdient Rudenko nach eigenen Angaben viermal so viel wie in Slawutitsch, wo sie früher für eine Lokalzeitung und einen Radiosender tätig war.
700 Arbeiter ziehen zur Zeit in Tschernobyl einen neuen Sarkophag für den explodierten Reaktor empor. Der alte Betonmantel, der nach der Katastrophe schnell über den Block gegossen wurde, reicht zum Schutz vor der Strahlung nicht mehr aus. Die neue Hülle besteht aus mehreren Metallschichten, ist 90 Meter hoch, dreißigtausend Tonnen schwer und bietet 100 Jahre lang Schutz. Sie soll den Reaktor bogenförmig umspannen und sieht nach Fertigstellung aus wie ein riesiger Flugzeughangar.
400 Euro Job am Atomkraftwerk
Die meisten Bauarbeiter kommen aus Slawutitsch, andere wurden als „Gastarbeiter“ aus der Türkei, Aserbaidschan, Portugal und Frankreich angeheuert. „Wir arbeiten 14 Tage in Tschernobyl, danach ruhen wir uns zwei Wochen zu Hause aus“, sagt Maxim, der seit einem halben Jahr auf der Baustelle arbeitet. Jeder Bauarbeiter habe ein Dosimeter dabei, das automatisch piept, wenn die zulässige Strahlungsdosis von 200 Mikrosievert überschritten wird. „Dann wird man sofort zur medizinischen Kontrolle geschickt und darf am Kraftwerk nicht mehr arbeiten“, fügt Maxim hinzu.
Verantwortlich für den Bau der Schutzhülle ist das Konsortium Novarka, an dem deutsche, französische und ukrainische Firmen beteiligt sind. Der Sarkophag soll Ende 2015 fertig sein und kostet 1,5 Milliarden Euro. Finanziert wird das Projekt vom Chernobyl Shelter Fund, den die Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung verwaltet. Geldgeber des Fonds sind unter anderem Deutschland, die USA und Japan.
Bauarbeiter Maxim verdient mit seinem Job umgerechnet 400 Euro im Monat, erzählt er. Das ist zwar höher als das Durchschnittsgehalt in der Ukraine. Für einen so gefährlichen Job sei er jedoch unterbezahlt. „Die französischen Bauarbeiter verdienen zehnmal mehr“, sagt Maxim verärgert. Maja Rudenko dagegen ist mit ihrer Arbeit zufrieden. Jedes Wochenende besucht sie ihren Sohn und ihre Tochter, die beide in Kiew leben. Von einem Atomausstieg wie in Deutschland hält sie nichts. „Die Ukraine hat nur wenig alternative Energiequellen, ohne Atomkraft würden bei uns die Lichter ausgehen.“