Im Rollstuhl durch Kiew
Das Altenheim Nr.4 in der Schukowa Straße am Stadtrand von Kiew ist ein vierstöckiger Plattenbau. Die Fassade bröckelt, Gitter versperren die Fenster. Drinnen, in den Gängen, riecht es nach Desinfektionsmittel. In der ersten Etage im Zimmer 211 sitzt ein junger Mann in schwarzer Jogginghose, einer Trainingsjacke und kurzgeschnittenen schwarzen Haaren an einem Laptop.
Vitali ist 35 Jahre alt und wohnt im Altenheim, weil es in der Ukraine zu wenige Einrichtungen für behinderte Menschen gibt. Vitali kam mit infantiler Zerebralparese zur Welt, einer Form von Kinderlähmung bei Neugeborenen. Vitali sitzt im Rollstuhl, ohne Hilfe kann er das Haus nicht verlassen, nicht einkaufen oder mit der U-Bahn fahren.
Wütend ist er nicht, aber enttäuscht
Auf dem Fensterbrett hat Vitali russische Ikonen aufgestellt, an der Wand hängt ein Teppich, hinter dem Bett steht ein Fernseher. Vor einer Stunde hat die Pflegerin das Mittagessen auf den Kühlschrank gestellt: Eine Tasse Tee und eine Metallschüssel mit Kartoffelbrei und Buchweizen. „Das gibt es hier jeden Tag“, bemerkt Vitali. Aufgrund der Nervenerkrankung kann er nicht richtig sprechen, seine Worte sind nur schwer zu verstehen. Aber er versteht alles, was man ihm sagt. Seit fünf Jahren lebt er in dem 20 Quadratmeter großen Zimmer. Zuvor hat er bei seinen Eltern in Butscha gewohnt, einer Provinzstadt nahe Kiew. Dann ließen sich die Eltern scheiden. „Meine Mutter wollte mich nicht mehr zu Hause haben“, sagt Vitali. Wütend auf sie sei er nicht, sagt er, aber enttäuscht.
„Menschen
mit Behinderung sind in der Ukraine vom öffentlichen Leben
ausgeschlossen“, sagt Raisa Krawtschenko. Die 51-Jährige mit der Bluse
und der Brille sitzt in einem kleinem Büro in der achten Etage im Haus
des Sozialministeriums in Kiew. Sie ist Leiterin der „Koalition für die
Rechte körperlich und geistig behinderter Menschen“. Der private Verein
macht sich für die Inklusion behinderter Menschen stark.
In der
Ukraine sei es üblich, dass Behinderte bei ihrer Familie zu Hause
wohnen, erläutert Raisa Krawtschenko. Im ganzen Land gäbe es nur vier
Wohnheime, wo Behinderte unter Betreuung selbständig leben.
„Die
Pfleger respektieren mich nicht“, meint Vitali. „Ich habe den Eindruck,
das Altenheim will nur das Geld kassieren, das der Staat für meine
Unterbringung zahlt. Manchmal fühle ich mich wie im Gefängnis“, ergänzt
er. Die Luft ist stickig, die Fenster sind zugeklebt, der Balkon
vergittert.
Die Pfleger sind überfordert
Nachdem
ihn seine Mutter abgeschoben hatte, studierte Vitali vier Monate
Soziologie an der Offenen Universität für Humane Entwicklung in Kiew. An
der Uni lernen behinderte und nichtbehinderte Studenten gemeinsam, die
Hochschule ist komplett barrierefrei ausgestattet. Jedoch musste Vitali
das Studium wegen seiner Sprachstörung abbrechen.
So sitzt Vitali
wieder jeden Tag in seinem Zimmer. Die Pfleger führen ihn nicht auf die
Straße, Übungen zur Rehabilitation sind im Heim nicht vorgesehen. Die
Zeit vertreibt sich Vitali mit Musik und Filmen, die er aus dem Internet
herunterlädt. Am liebsten mag er mystische Filme, in denen es um den
Kampf zwischen Gut und Böse geht.
Plötzlich klopft es an der Tür, Olja Makar betritt das Zimmer. Die 23-jährige Studentin hält eine Einkaufstüte in der Hand, sie hat Brot, Käse, Wasser und Milch mitgebracht. Olja kommt zweimal pro Woche ins Altenheim, kauft Lebensmittel und geht mit Vitali spazieren. Kennengelernt haben sie sich in einer kirchlichen Gemeinschaft, die den Senioren hilft und in der sich Olja engagiert. „Als wir sahen, wie isoliert Vitali hier lebt, haben wir ihm den Laptop geschenkt“, sagt die junge Frau mit dem Wollpulli und der Jeans.
Im Netz hat Vitali mehr als 200 Freunde
Inzwischen hat Vitali auf seinem Laptop die Webseite vkontakte.ru aufgerufen, ein in Russland und der Ukraine beliebtes soziales Netzwerk ähnlich wie Facebook. Über zweihundert Freunde zeigt sein Profil, die meisten kennt er über Olja und ihre Gemeinde. Über Kurznachrichten oder per Webcam verabreden sie sich, jeden Sonntag fahren sie mit Vitali zum Gottesdienst in eine nahe gelegene orthodoxe Kirche.
„Wenn ich nach draußen will, muss ich meine Freunde anrufen“, sagt Vitali. Er hört sich zugleich froh an darüber, dass er diese Freunde hat, und auch traurig, dass er von ihnen zu einem gewissen Grad abhängig ist. Doch das Personal im Altersheim ist nur ungenügend für die Pflege von körperlich Behinderten ausgebildet. Sporadischen Kontakt hat er im Wohnheim nur zu der gleichaltrigen Katja, die ebenfalls an Kinderlähmung leidet und ein paar Zimmer weiter wohnt. „Ich vermisse den Umgang mit Leuten in meinem Alter“, sagt Vitali.
Die Blicke sind ihm egal
Laut Statistik leben in der Ukraine rund drei Millionen Menschen mit Behinderung. Für die Integration Hilfsbedürftiger waren im Staatshaushalt 2012 nur 68 Millionen Dollar vorgesehen – 22 Dollar pro Person. Vitali muss mit einer Rente von umgerechnet 80 Euro im Monat auskommen.
„Bei der Gleichstellung Behinderter liegt die Ukraine 50 Jahre zurück“, sagt Raisa Krawtschenko. Vor drei Jahren hatte die Ukraine die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Der Vertrag verlangt die Inklusion behinderter Menschen, womit nicht nur ihre Gleichstellung, sondern auch die Abschaffung aller Barrieren gemeint ist. Der Vertrag gewährt das Recht auf Bildung und Arbeit, auf medizinische Versorgung, Freizügigkeit und Teilnahme an Wahlen.
„Doch kein einziger Paragraf wurde bisher umgesetzt“, berichtet Krawtschenko. Schlimmer noch: In der Ukraine verlieren geistig behinderte Menschen ab einem bestimmten Grad ihre Rechtsfähigkeit und können sich nicht mehr auf die Grundrechte in der Verfassung berufen. Artikel 12 der UN-Konvention soll diesen Missstand beheben, doch die Regierung ignoriere die Bestimmung, erklärt die Aktivistin.
Olja greift Vitalis Rollstuhl, schiebt ihn hinaus auf die Straße. Nicht weit vom Seniorenheim entfernt liegt ein Wald, wo die Studentin Vitali spazieren fährt. Der Rollstuhl schafft es kaum über die hohen Bordsteinkanten, manche Autofahrer stoppen nicht an der roten Ampel, die Leute gucken. Später sagt Vitali, er habe die Blicke nicht bemerkt. Und außerdem, fügt er hinzu, seien sie ihm egal.
„Zu Sowjetzeiten war man den Umgang mit behinderten Menschen nicht gewohnt“, erklärt Raisa Krawtschenko. Damals seien Behinderte stigmatisiert worden, über sie zu sprechen, Fotos oder Fernsehbilder zu zeigen, war ein Tabu. „Die meisten Leute wollten Menschen mit Handicap in den Hinterhof abschieben. Und das ist heute immer noch so“, meint Krawtschenko.
„Ich möchte mich nicht verstecken“, sagt Vitali. Für die Zukunft wünscht er sich, dass er in einem Heim untergebracht wird, wo er selbständiger leben kann, wo es besseres Essen und Möglichkeiten zur Rehabilitation gibt und die Pfleger mit ihm auf die Straße gehen. Ansonsten sei er zufrieden, meint Vitali und fügt noch schnell hinzu: „Solange ich viele Freunde habe, die mich besuchen.“