Georgien

Liebe in Zeiten der Cola

Ich muss an Nora denken. Morgen werden wir in der Gegend sein, in der sie als 16-Jährige fast Opfer eines Brauträubers wurde. Aber werde ich tatsächlich Menschen treffen, die darüber reden wollen? Geraubte Frauen müssen doch traumatisiert sein. Wie komme ich an die heran? Ich hoffe, dass Salome mit ihrer offenen Art die eine oder andere Hemmung lösen kann. Und wie werden die Männer reagieren? Sind sie auf eine archaische Art stolz, dass sie ihre Ehefrau mit einem Handstreich erobert haben? Oder handelt es sich eher um traurige Außenseiter, die sonst keine abbekommen hätten?

(…)

Wir sind hungrig. Nach knapp zwei Stunden halten wir vor einem Bretterverschlag, dem ersten winzigen Restaurant am Wegesrand. Zwei vielleicht 50 Jahre alte Frauen und eine hübsche 16-Jährige begrüßen uns warmherzig. Wir dürfen in der Küche zuschauen, wie sie den Teig kneten und das Feuer schüren. Ein warmer Geruch steigt auf vom herrlichsten Chatschapuri ganz Georgiens. 

Da ich hier nun mit meinem Englisch am Ende bin, bitte ich Salome, die Frauen nach ihrem Familienstand zu fragen. Ich verstehe zwar nichts von dem ganzen Kauderwelsch in der dampfenden Küche, doch ich merke am Gesichtsausdruck der Frauen, dass wir schon beim Thema sind. 

„Salome, übersetz das bitte mal für mich.“ „Die eine der beiden ist geraubt worden, als sie 17 war“, meint Salome, die anscheinend nicht weiß, ob sie schockiert sein soll oder erfreut, dass ihre Recherche so schnell von Erfolg gekrönt ist. „Frag sie, ob sie noch mit ihrem Mann zusammen ist.“ Salome wendet sich wieder an die Frau, die mit einem Mal sehr melancholisch wirkt, und antwortet dann: „Sie sagt, sie sind verheiratet und haben fünf Kinder“  (…)

„Sie hat draußen auf einem Feld gearbeitet. Da kam ein Mann in einem großen Auto, den sie vorher noch nie gesehen hatte. Er hat sie in den Wagen gezerrt. Sie hat geschrien. Sie hatte große Angst, aber es war niemand da, der ihr hätte helfen können. Er brachte sie hoch in die Berge. Dort hat er sie vergewaltigt.“ „Und sie ist wirklich immer noch mit diesem Mann zusammen? Ist sie denn glücklich?“ Wieder wendet sich Salome an die Frau, die gerade das Brett mit dem duftenden Chatschapuri aus dem Ofen zieht. „Sie sagt, sie hat sich damit arrangiert. Was sonst sollte sie auch tun?“

Was sonst sollte sie auch tun? Diese Worte schwingen nach in meinem Kopf. Die Frau hatte offenbar keine Chance, ihr eigenes Lebensglück zu suchen. Ich erinnere mich an das, was mir Nora erzählt hat: Als entehrtes Mädchen musst du den Brauträuber heiraten, kein anderer nimmt dich mehr. Salome und ich treten aus der Küche auf die kleine Terrasse auf der Rückseite des Bretterverschlags. Malkhazi sitzt dort und schaut entspannt hinunter auf den wild tosenden Inguri. 

„Was hältst du vom Brautraub?“, frage ich ihn. „Nichts“, antwortet er. „Er stirbt langsam aus, es wird von Jahr zu Jahr weniger. Vor ein paar Wochen gab es allerdings wieder einen Fall. Aber das war arrangiert.“ Ich bin verwirrt. Arrangierter Brautraub, was soll das sein? „Wenn zwei sich lieben, die Eltern aber dagegen sind, dann täuscht das Paar einen Brautraub vor. Sie verschwinden für ein paar Tage in den Bergen. Das Mädchen gilt dann als entehrt. Man stellt die Eltern also einfach vor vollendete Tatsachen.“ Malkhazi grinst. Das ist wohl die einzige Variante von Brautraub, die er gutheißen könnte. Quasi die romantische Version.

(…)

Hochzeit in Kutaissi

Wir sind spät dran. Als wir den Saal betreten, geht der Hochzeitstanz gerade zu Ende. Traditionell gekleidete Männer stehen mit ihren Säbeln dem Brautpaar Spalier. Rund 250 Gäste sind anwesend, alle entweder sehr traditionell oder sehr schick gekleidet. Nur der deutsche Gast, der keinen Anzug in den vermeintlich wilden Kaukasus mitgebracht hat, steht etwas blöd da in Bluejeans und Cowboystiefeln. Salome hingegen sieht aus wie eine Göttin in ihrem schwarz-roten Kleid, mit den vollen roten Lippen und der roten Blume im schwarzen Haar.

Der Tisch biegt sich vor Chatschapuri und Hühnchen, vor Rind und Leber, vor Schwein und Gemüse. Das Wichtigste: der Wein. „Füllt ihnen die Gläser“, donnert der Zeremonienmeister seinen Tischbrüdern zu. Und schon prosten sie uns zu, die Männer von der Bruderschaft der „Diener des Patriarchen“ – ein traditionalistischer Verein, der den georgischen Patriarchen fast wie einen Halbgott verehrt.

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Zeremonienmeister Mikhail springt von seinem Stuhl auf, er brüllt ins Mikrofon: „Was für ein herrlicher Tag! Trinken wir auf den Patriarchen, trinken wir auf Kutaissi! Trinken wir auf das Glück des Paares!“ Und wie alle anderen Männer springe ich auf und hebe das Glas. Auf die herrliche Hochzeit in Georgiens alter Hauptstadt!

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Als sich der nächste Toast ankündigt, hole ich meine Kamera hervor und tue so, als müsste ich wichtige Fotos schießen. Da springen auch schon ein paar Burschen und ein paar hübsche Mädchen auf und beginnen, wild zu tanzen. Die Burschen verrenken sich, sie gehen in die Knie, stampfen im Stakkato, dann fliegen sie wie Adler auf die sich schüchtern gebenden Mädchen zu, die sich abwenden, wenn die Adler zu nahe kommen. Die nehmen dann wieder Anlauf, sie stampfen, recken die Arme in die Luft und fliegen wieder heran.
Es ist doch immer das gleiche Spiel zwischen Mann und Frau … Der Mann balzt und imponiert, er fleht auf Knien, das Weibchen ziert sich und scheint zu sagen: „So leicht bin ich nicht zu haben, mein kleiner Adler.“ Und die Adler werden immer wagemutiger und immer wilder, sie fliegen immer näher an die Beute heran. Dann ist die Musik aus, und die Adler setzen sich wieder auf ihre Stühle und trinken Wein.

(…)

Die hügelige Landschaft ist großartig, das Kloster aus dem zwölften Jahrhundert imposant. Es entstand in der goldenen Ära Georgiens. Angeblich hat König David der Erbauer seinem Namen alle Ehre gemacht und hier selbst Hand angelegt. Er ruht etwas abseits der Hauptkirche in einem steinernen Grab und bittet alle Besucher, auf seiner Grabplatte herumzutrampeln. „Das war sein letzter Wunsch“, meint Salome, während sie mit gewisser Andacht über des Königs letzte Ruhestätte spaziert. 

Der König wird mir sympathisch. Es muss ein viel angenehmeres Gefühl sein, dauernd Besuch von seinen Landsleuten zu haben, als in dieser Totenstille zu ruhen, die sonst auf Friedhöfen herrscht. Die Muttergotteskirche mit ihrem Mosaik und ihren Fresken wirkt einladend warm und schön. In einer Ecke steht ein bärtiger Priester und singt mit einer Familie zusammen, ganz zart und leise.
Die Vertrautheit von Pfarrer und Familie ist rührend – so etwas kenne ich nicht aus der katholischen Kirche. Sie hat also auch schöne Seiten, die Orthodoxie. Und wenn du am Zweifeln bist, nicht mehr ein und aus weißt und dann so ein freundlicher, bärtiger Mann mit ruhiger Stimme sagt: „Mädchen, heirate den Georgier“, dann kann das Leben viel einfacher sein als nach dem Besuch des Psychotherapeuten in Frankfurt-Bornheim. Du bist dann im Einklang mit Gott, mit dem Land und der Familie.

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Interview mit Peter Theisen


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