Bei der letzten Mannfrau vom Balkan
Tusin ist ein kleines, verfallenes Dorf im Norden Montenegros. In einem Steinhäuschen neben der Kirche wohnt Stana Cerovic. Auf den ersten Blick sieht sie aus wie eine typische alte Frau dieser Gegend: Ihr Gesicht ist hager und von der Sonne gegerbt. Sie sitzt auf einem zerrissenen Stuhl in ihrer kleinen, verrauchten Stube vor dem Holzofen. Doch der erste Eindruck täuscht. Stana ist alles andere als gewöhnlich. Sie ist die letzte sogenannte „eingeschworene Jungfrau“ Montenegros.
Stana verkörpert ein Phänomen, das früher außer in Montenegro auch in Nordalbanien und dem Kosovo sehr verbreitet war, zumindest auf dem Land: Familien, in denen es keine Söhne gab, erklärten bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein ihre jüngste Tochter oft kurzerhand zu einem Mann. Denn nur Männern war es erlaubt, den Familienbesitz zu erben und den Hof weiterzuführen. Auch Stana trat als junges Mädchen symbolisch zum männlichen Geschlecht über: Sie schnitt sich die Haare ab und begann, Männerkleidung zu tragen. Und sie legte einen Eid ab, dass sie niemals heiraten und für immer Jungfrau bleiben würde.
„Ich mag keine Frauen“, sagt Stana und zündet sich eine Zigarette an. „Bei unseren Gemeindetreffen kann ich noch nicht einmal neben einer sitzen. Nur Männer erzählen ‚normale‘ Dinge, Frauen dagegen sind voller Klatsch und Tratsch.“
Selbstgebrannter statt Kaffee
Stana hat zwar ihren weiblichen Vornamen behalten. Ansonsten aber hat sie das patriarchalische Gesellschaftsbild, mit dem sie aufgewachsen ist, verinnerlicht. „Wo sind die richtigen Leute?“, fragt sie, wenn sie Besuch bekommt und zuerst eine Frau über die Schwelle tritt. Denn traditionell betreten zuerst Männer das Haus, gefolgt von den Frauen. Und bis heute meinen ältere Montenegriner mit dem Begriff „Leute“ ausschließlich Männer.
Stana serviert ihren Gästen keinen Kaffee, sondern selbstgebrannten Schnaps. Den ersten für einen klaren Kopf, wie sie sagt, den zweiten zum Aufwärmen. Nach dem dritten wird sie sanfter und redseliger.
Stana lebt allein in dem Steinhaus, in dem sie aufgewachsen ist. Ihre vier älteren Schwestern sind tot, die letzte starb vor einem Jahr. Wenn Stana mit Ciro, ihrem Kater, und Blacky, ihrem Hund spricht, wird ihre Stimme weich. Ab und zu streichelt sie über das Fell ihrer Haustiere. Stana redet gerne und viel. Und wie jeder richtige Mann am liebsten über Politik und Geschichte. Ihr Lieblingsthema sind die Präsidentschaftswahlen in Montenegro, die ihr Favorit und langjährige Präsident Filip Vujanovic gewonnen hat. „Vujanovic weiß, wie man redet. Sein Gang ist der eines starken, verlässlichen Mannes. Solche Leute sind die besten“, erklärt sie.
Ewige Jungfernschaft dem Vater zu Liebe
Doch an einen kommt selbst Vujanovic nicht heran – an Josip Tito, den langjährigen Präsidenten Jugoslawiens. „Wenn es wieder einen Tito gäbe, wäre alles anders”, gibt Stana mit melancholischer Stimme zu bedenken. „Die Menschen haben sich verändert. Sie sind einander nicht mehr dankbar, stattdessen herrscht Hass”, sagt sie. „Als Tito noch lebte, pflegten wir zu sagen, die Montenegriner seien Auserwählte. Schaut uns jetzt an. Alles Rost”, sagt sie und versinkt in Gedanken.
Zu Beginn der Titozeit in den 1940-er Jahren entschied sich Stana, ein Mann zu werden. Sie war die jüngste von fünf Schwestern, ihre Eltern hatten keinen Sohn. Sie war bereit, ihrem Vater als Familienoberhaupt zu folgen und willigte ein, einen Eid auf ewige Jungfernschaft zu schwören. „Ich wollte meinen Vater nicht durch die Ehe mit einem anderen Mann verlassen. Er unterstützte mich dabei”, erklärt sie. „Bleib hier”, habe er zu ihr gesagt. Während Stana das erzählt, lächelt sie.
Es war ihre eigene Entscheidung, eine eingeschworene Jungfrau zu werden. Auch Jahrzehnte später bereut sie die Entscheidung nicht. „Das wäre albern”, sagt sie. Und fügt hinzu: „Wie kann eine Frau weggehen und in einem Haus leben, das ihr nicht gehört? Das verstehe ich nicht.” Stana ist immer noch stolz auf ihre Wahl. Ihr ganzes Leben hat sie sich um das Haus gekümmert.
Dann muss Stana gehen und ihre Kuh füttern. Obwohl sie nicht mehr gut auf den Beinen ist, macht sie das dreimal am Tag. Ihr Neffe hat seine Hilfe angeboten, doch sie hat abgelehnt. Männer dürfen schließlich keine Schwäche zeigen. In ihrem alten blauen Pullover, den schwarzen Männerhosen und der Mütze steht sie auf und geht zum Kuhstall.