Estland

Mit dem Auto über die Ostsee

Am Fährhafen von Rohuküla im Norden Estlands: Zwei Kleinwagen sind kurz vor dem Anleger abgebogen. Am Rande des Hafenbeckens halten sie vor einem Stoppschild, hinter dem sich unter strahlend blauem Himmel die Ostsee als eine riesige Eisfläche erstreckt. Die junge Frau im blauen Golf hat ihr Fenster geöffnet. Sie sei mit ihren Freundinnen auf dem Festland Pizza essen gewesen und fahre jetzt zurück nach Hause auf die Insel Vormsi. „Normalerweise müssen wir die Fähre nehmen, aber jetzt fahren wir übers Eis. Ich finde das toll.“

Ein Mann im gelben Jeep neben ihr zündet sich eine Zigarette an. Das sei doch richtig exotisch, lacht er und schnippt die Asche in den Schnee. „Sieben Kilometer übers Eis in nur zehn Minuten. Mit der Fähre dauert es 45 Minuten und kostet Geld. Ich komme vom Festland und fahre hinüber auf die Insel, weil es mir Spaß macht.“


Anschnallen verboten

Bevor er die Autos durchwinkt und den Weg auf die Eisstraße freigibt, notiert Jüri Karilo Autokennzeichen und Anzahl der Insassen. Seit fünf Wochen macht er diese Arbeit schon, so lange dient die Ostsee schon als Straße. Aus seinem kleinen Container hat er einen guten Blick auf die Wartenden. Manchmal springt Jüri Karilo ins Freie, klopft an Fenster und gibt letzte Anweisungen für die Fahrt über das Eis.

Die Insassen dürften auf keinen Fall ihren Sicherheitsgurt anlegen, erklärt er. „Sollte das Eis plötzlich brechen, müssen sie sich schnell aus dem Auto retten können.“ Außerdem müssen alle Autos einen Abstand von 250 Metern halten, ansonsten werde der Druck auf das Eis zu groß. „Mein Kollege auf der anderen Seite notiert sich auch die Autokennzeichen. So überprüfen wir, ob die Leute auch gut angekommen sind.“


Mit 70 Stundenkilometern übers Glatteis

Wer über die Ostsee fährt, sieht Schnee und Eis, soweit das Auge reicht. Mit kleinen Bäumchen hier und da haben Jüri Karilo und seine Kollegen die Eisstraße markiert. Schilder erlauben eine Höchstgeschwindigkeit von 70 Stundenkilometern und warnen vor Schlaglöchern. Einige tausend Autos haben bereits die Fahrt über das Eis gewagt, an Feiertagen sind es besonders viele. Mittlerweile sind die Spuren tief ausgefahren, mal sammelt sich Wasser, mal werden getaute Fahrrillen mit Holzbrettern überbrückt.

Toivo Saar baut schon seit Tagen mit seinem Traktor an einer neuen Trasse. Der „Eismeister“, wie man ihn auf Vormsi nennt, wacht über die Sicherheit. Bei Nebel, Schnee, Regen oder hohen Minusgraden wird die Eisstraße sofort geschlossen. Denn die größte Gefahr drohe bei großer Kälte, sagt Toivo Saar, der ständig nach gefährlichen Rissen auf der Eisfläche Ausschau hält. Er gebe das Eis erst frei, wenn es 50 cm dick ist und trägt, sagt der Eismeister. Bedrohlich ist eine anhaltende Kälte unter minus 10 Grad. Dadurch steigt der Druck, das Eis kann brechen. „Heute Morgen habe ich erste tiefe Risse beobachtet. Das Eis könnte explodieren. Deshalb werden wir morgen eine neue Trasse eröffnen“, erklärt Toivo Saar.


Zu Sowjetzeiten brachen Autos auch mal ein

Als Estland noch Sowjetrepublik war, konnte es schon mal passieren, dass ein Wagen einbrach und im Meer versank, erinnert sich der Journalist Urmas Lauri. Unter der Eisdecke sei das Meer sechs bis sieben Meter tief – und im Unterschied zu heute fand im Sozialismus keine umfassende Kontrolle statt. Urmas Lauri berichtet Jahr für Jahr ausführlich über den Bau der Eisstraße. Dreimal in der Woche wird die Eisdecke an markierten Stellen gemessen. Zu Beginn war das Eis nur 20 Zentimeter dick, heute sind es bereits mehr als 60 Zentimeter.

Die Eisstraße sei in den Zeitungen der Region eine wichtige Rubrik, erklärt der Journalist. Die Leute fieberten ihr entgegen, und am Tag der Öffnung stünden die Autos in langer Schlange an. „Sie hat etwas Magisches. Du kannst sie 20 oder 30 Mal fahren, und sie sieht immer anders aus. Ich liebe es, wenn sich die Sonne auf der Eisfläche bricht und genieße die Weite der Schneelandschaft.“

Tatsächlich sieht es so aus, als könnten die Leute von Vormsi ihre winterliche Freiheit noch eine Weile genießen. Solange es kalt ist und nicht regnet, können sie so oft sie wollen über ihre „gefrorene Brücke“ zum Festland fahren.


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