Gemeinsam gegen „Viktator“
„Es ist genug. Wir nehmen das nicht mehr hin. Wir werden auf die Straße gehen, bis jemand Viktor Orban endlich stoppt“, sagt Milan Rozsa. Der 25-Jährige hält ein Megafon in der Hand. Schon länger engagiert sich der Jurastudent bei der Studentenorganisation HaHa. Seit ein paar Wochen gehen er und seine Kommilitonen fast täglich auf eine Demonstration.
Die Aktivisten versammeln sich in einem besetzten Raum der ehrwürdigen Eötvös-Lorand- Universität und im ehemaligen Szene-Café Siraly zur Lagebesprechung. Die zusammengewürfelten Tische und Stühle in dem Café erinnern an das alternative Budapest der 1990-er Jahre. Die Aktivisten haben ihre Transparente an die Wand gelehnt, debattieren, zeichnen einen Aktionsplan an die Tafel.
Obdachlosigkeit ist strafbar
Rund 4.000 Männer und Frauen sind in den vergangenen Tagen trotz Eiseskälte in Budapest auf die Straße gegangen gegen die weitreichende Verfassungsänderung, die Premierminister Viktor Orban und seine rechtspopulistische Partei Fidesz vor einer Woche durchs Parlament gebracht haben. „Die Verfassungsänderung betrifft mich gleich doppelt“, stellt Milan Rozsa fest. „Als Student muss ich mit höheren Studiengebühren rechnen. Und als Schwuler werde ich aus dem Begriff von ‚Familie‘ ausgeschlossen, womöglich wird meine eingetragene Partnerschaft bald nicht mehr anerkannt.“
Ein paar Schritte weiter wartet auch Jutka Lakatos auf die nächste Kundgebung. Die 58-Jährige hat sich in einen dicken Mantel gehüllt, sie ist seit der Wende obdachlos. „Die Fidesz-Regierung bezeichnet sich als christlich, doch sie kriminalisiert und vertreibt die Armen. Mein Mann ist Roma und fühlt sich nicht mehr sicher in dieser Stadt. Die Polizei schikaniert uns, vor einigen Monaten wurden wir sogar von Polizisten geschlagen“, empört sich Lakatos. „Mit der Verfassungsänderung erklärt uns Orban für Verbrecher.“
Der Protest gegen die Verfassungsänderung bringt in Ungarn plötzlich Menschen aus verschiedensten Schichten zusammen: Studenten und Obdachlose, Gewerkschafter, Schwule und Lesben und Lehrer, Menschenrechtsaktivisten, Medienschaffende, verarmte Rentner und Budapester Hipster – sie alle fühlen sich in ihren Grundrechten bedroht.
Ein Beamter entscheidet über die Richter
Die neue Verfassung sieht vor, dass Obdachlose für das Schlafen in der Öffentlichkeit bestraft werden dürfen. Sie verbietet Wahlwerbung im privaten, großenteils oppositionellen Fernsehen. Sie gibt dem Parlament und damit der Zwei-Drittel-Mehrheit von Viktor Orbans Regierungspartei die Macht, darüber zu entscheiden, welche Religionsgemeinschaft künftig Kirchenstatus und damit Steuergelder erhält und welche nicht. Ein neuer Passus im Grundgesetz definiert die Familie als heterosexuell und schließt Paare ohne Trauschein aus dieser Definition aus. Der Text schränkt die Autonomie der Universitäten ein und droht den Studenten, die nach dem Abschluss im Ausland arbeiten wollen, hohe rückwirkende Studiengebühren an.
Mit dem neuen Gesetzestext hat das Parlament zum vierten Mal das 45-seitige Grundgesetz geändert, das erst seit Anfang 2012 in Kraft ist. Mit der jetzigen Änderung machte das Parlament fast alle Kompromisse, die die Orban-Regierung auf Druck der Europäischen Union oder des ungarischen Verfassungsgerichts akzeptieren musste, auf einen Schlag rückgängig. Auch die Unabhängigkeit der Justiz wurde beschnitten. Ein politisch ernannter Beamter kann künftig ohne Begründung entscheiden, welcher Richter welchen Fall bekommt. Das Verfassungsgericht darf sich künftig nicht mehr auf Entscheidungen aus der Zeit vor der neuen Verfassung berufen.
Milan Rozsa und seine Mitstreiter wollen weiter auf die Straße gehen, der Protest soll nicht abreißen. Ein Tag in der Woche ist künftig Protesttag, das haben sie schon entschieden. Sie wollen damit auch ein Signal an die Europäische Union senden. Die hat der Regierung in Budapest schon gedroht, den Geldhahn zuzudrehen. „Wir hoffen auf Europas Hilfe. Bis dahin bleibt uns nur der permanente Protest“, sagt Milan Rosza und nimmt sein Megafon in die Hand.