Polen

Wasserfarben

Eines verbindet alle Roma im Postkommunismus – die ständig drohende Gewalt. Und die Erinnerung an die Gewalt geht über Generations-, System- und Staatsgrenzen hinweg. 

Der Holocaust ist der Gipfel der Verfolgung, die politischen Eliten der Roma bauen ihre Identität auf ihm auf. 
Die Mobilisierung einer Gemeinschaft ohne Geschichte. Gab es diese Geschichte nicht, oder hat niemand sie erforscht? Wurde sie vergessen? Oder aus Sicherheitsgründen vor den Geschichtsschreibern geheimgehalten? Europa nutzte das Wissen über die Roma, um sie zielgerichteter zu diskriminieren.


Der „vergessene Holocaust“

Die deutschen Sinti und Roma gründen in Heidelberg ein spezielles Zentrum zur Dokumentation der Ausrottung der Roma. Noch immer fehlt eine Bezeichnung für diesen Tod. Manchmal wird vom „vergessenen Holocaust“ gesprochen, doch an diesem Begriff stören sich manche Juden. Um nicht in Konkurrenz zu geraten, wurden die Romani-Worte „Porajmos“ (Verschlingen) oder „Samudaripen“ (Völkermord) eingeführt. 

Ob einer dieser Termini sich durchsetzen wird? Vielen Roma gefällt die Idee einer auf dem Grundstein der Vernichtung aufgebauten Geschichte ihres Volkes nicht. Die einen wollen wie seit jeher in ihrer Kultur weiterleben. Sich nach hinten umzusehen, zu den Verstorbenen, ist ein Vergehen, ein Verrat am Romatum. Die anderen interessiert die Vergangenheit, aber eine andere: die Herkunft der Gruppen, die Routen der Wanderungen, die Erfolge und die Fähigkeit zu überdauern. 


Im Rahmen der Reihe „Reportagen ohne Grenzen“ liest Lidia Ostalowska am Freitag, 22. März 2013, um 19:00 Uhr, aus ihrem Reportageband „Farbe Wodny“ in der deutsch-polnischen Buchhandlung Buchbund, Sanderstraße 8, 12047 Berlin.

www.buchbund.de

Idee und Organisation: Marcin Piekoszewski, Lisa Palmes
Moderation: Joanna Czudec
Übersetzungsproben: Lisa Palmes
Lesung: Dorothee Krüger


Den Ton gibt aber die junge Generation der politischen Führer aus Polen, Deutschland, Österreich, Holland, Ungarn, Tschechien, der Ukraine und dem ehemaligen Jugoslawien an. Treffen im Zigeunerlager sind für sie keine Anrufung der Seelen. Im Museum Auschwitz verkünden sie: Wir haben keinen eigenen Staat. Erlaubt uns, in Block 13 die ganze Geschichte der Verfolgungen zu zeigen. Wir haben vor dem Krieg gelitten, wo können wir davon berichten?
Und das Museum macht eine Ausnahme.

Direktor Piotr Cywiński, Historiker und Mitglied des Warschauer Klubs der Katholischen Intelligenz:
„Ausstellungen entstehen normalerweise mit Unterstützung vonseiten der Regierung oder der Ministerien. Deshalb glaubten viele Menschen, Gesellschaftskreise, Institutionen nicht, dass die Roma es schaffen würden. Die erhaltenen Dokumente konnte man an einer Hand abzählen. Ein paar Bilder von kastrierten Jungen, Briefe und Berichte. Und die Aquarelle von Dina Gottliebova.“


Viele zogen es vor, zu schweigen

Eine leere Vergangenheit. Es gab keinen teuflischen Liquidierungsplan. Die Herrscher des Dritten Reichs erließen widersprüchliche Weisungen. Eine zusammenhängende Kette von Entscheidungen lässt sich nicht erkennen. Es gibt keine gut ausgestatteten Archive mit Informationen über die Ermordung der Roma. Nach dem Krieg kehrten Hitlers Verbündete und Kollaborateure aus den besetzten Ländern lieber nicht mehr zu diesem Thema zurück. Die europäischen Roma zogen es vor, zu schweigen, um die schwierigen Beziehungen zur Mehrheit nicht zu verkomplizieren.

Piotr Cywiński: „Die Ausstellung gehört zu den besten ihrer Art. Die Aquarelle kommen zum Abschied. Hinter Glas, besonders angeleuchtet und bewacht.“
Sie sollten das Wesen der Roma unterstreichen; für sie sind es Reliquien.
Die Roma verteidigen die Aquarelle hitzig gegen Dina Gottliebova Babbitt.

[...] Beamte von beiden Seiten des Ozeans wechseln Briefe, holen Beurteilungen und Expertengutachten ein.

Auch Dina erhält Briefe.


„Bitte nehmen Sie uns nicht das Wertvollste...“

Der erste ist von Roman Kwiatkowski. „Ich erlaube mir die Bitte, meinen Brief zu lesen und die von mir unterbreiteten Vorschläge zu überdenken. Es sind nur wenige Spuren von unserem Holocaust erhalten geblieben. Ihre Portraits sind nicht nur für mich die bedeutendsten davon. Wir, die Roma, stehen in Ihrer Schuld. Ich verstehe Ihre Beweggründe, möchte Sie aber dennoch in meinem eigenen Namen und im Namen meines Volkes inständig bitten, uns diese historisch wertvollen Arbeiten zu überlassen, damit sie an dem Ort verbleiben, an dem sie den nachfolgenden Generationen Zeugnis geben können. Bitte nehmen Sie diesen nicht das Wertvollste – die Erinnerung und die Geschichte. Ich bin mir sicher, dass Ihnen Ihr persönliches Schicksal, das Wissen um das Schicksal anderer und Ihr Feingefühl gestatten, diese nicht einfache, aber für unsere Minderheit so wichtige Bitte zu erfüllen.“

Über einen weiteren Brief grübelt Vizedirektorin Krystyna Oleksy. Schließlich weiß Dina Gottliebova, dass kein anderes Museum, keine andere Sammlung, keine Ausstellung und kein Safe ein würdigerer Ort für die Aquarelle sein können als der Ort, an dem sie entstanden. Sie weiß auch, was dieser Ort für sie selbst, für andere Opfer und für die heutige Welt bedeutet. Meint sie etwa, ihre Lagererlebnisse hätten es verdient, aufgeteilt und verkauft zu werden, um eigene oder fremde Eitelkeiten zu befriedigen? Mobilisiert sie etwa die Mächtigen dieser Welt, um in den Augen vieler Menschen ihre Intentionen und ihren vom Museum hochgehaltenen guten Ruf in zweifelhaftem Licht erscheinen zu lassen? Will sie den Museumsmitarbeitern wirklich sagen, ihre Bemühungen sollten ihren Sinn verlieren? Will sie diesen Leuten, ihren Schicksalsgenossen, sagen, die ganze Arbeit sei vergebens gewesen? Diese und ähnliche Fragen stellt die Vizedirektorin in einem privaten Brief.


Die amerikanischen Roma verstehen das Anliegen nicht

Dina antwortet niemandem. [...]

Die Gesellschaft der Roma in Oświęcim verschickt ein Kilogramm Briefe […]. Auch nach Übersee, an die amerikanischen Senatoren.

In Deutschland führt Romani Rose eine ähnliche Aktion durch. Die tschechischen Roma schließen sich an.

Im Antwortschreiben erhalten sie die Nachricht, dass ihre Mitbrüder aus den Staaten Dinas Forderung unterstützen. Das erklärt Ian Hancock – Sprachwissenschaftler, Professor an der University of Texas in Austin, Mitglied des Holocaust-Gedenkrates der USA und Repräsentant der Roma bei der UNO.

Warum stellen sich die amerikanischen Roma nicht hinter die aus Europa? Weil sie nicht verstehen, was diese mit den Aquarellen wollen. Erinnerungsstücke an Tote aufzubewahren steht schließlich im Widerspruch zu den Roma-Bräuchen und dem Zeremoniell zu Ehren der Verstorbenen.

Dazu sagt Stanisław Stankiewicz vom Zentralrat der Roma in Polen: „Die Aquarelle sind für uns eine Art Talisman, ein Heiligtum, und sollten bei niemandem aufgehoben werden, der kein Rom ist.“

Die deutschen Sinti und Roma appellieren gemeinsam an den Kongress und die internationale Gemeinschaft: „Wir verstehen und achten die persönlichen Erfahrungen der Malerin; wir wissen vom unmenschlichen Schicksal, das die Juden erlitten haben. Dennoch erwarten wir auch Achtung vor unserer Tradition. Keine Kopie kann die Originale ersetzen. Die Portraits besitzen für uns sowohl historischen als auch sakralen Wert. Es wäre eine Profanierung der Roma-Opfer des Nationalsozialismus, wenn sie sich in privater Hand befänden.“ […]

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes


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