Wie im 21. Jahrhundert ein Buch verbieten?
Erleben Sie Victor Martinovich auf der Leipziger Buchmesse:
Donnerstag, 14. März von 15.00 – 16.00 Uhr | Forum OstSüdOst, Halle 4 E505
„Die vielen Gesichter der Zensur“
Diskussion mit Anda Rottenberg (PL), Kateryna Mishchenko (UA), Victor Martinovich (BY), Moderation: Martin Pollack (A)
Weitere Veranstaltungen finden Sie bei Tranzyt, dem Osteuropa-Programm auf der Leipziger Buchmesse.
Tallinn ist im November furchtbar romantisch. Fast den ganzen Tag herrscht Nacht, das müssen Sie gesehen haben. Dunkel, Nebel, Nieseln, Wind. Alles ist sündhaft teuer wegen irgendwelcher Skandinavier, die mit der Fähre herüberkommen und hier aufdrehen, ohne sich um die Preise zu scheren, weil bei ihnen die Prohibition gilt und hier nicht. Wer da nicht depressiv werden will, muss entweder mitsaufen oder jemanden zum Flirten haben.
Es ist zum Auswachsen: Morgendämmerung um 10, Sonnenuntergang um 15 Uhr. Die Stehlampe im Hotelzimmer brennt pausenlos. Ebenso die Straßenlaternen. Man reibt sich die Augen und fragt: Ist schon wieder Nacht oder immer noch? Ich konnte mich also nur retten, indem ich soff und alles beflirtete, was Beine hatte. Die Stehlampe inbegriffen.
Wir schreiben das Jahr 2009. Ich bin für ein Pitching zu meinem soeben erschienenen Roman „Paranoia“ nach Tallinn gekommen, zum Black Nights Festival. Pitching bedeutet, in einem Saal sitzen zehn lahme Filmproduzenten, während du über die Bühne wirbelst und ihnen erzählst, was für einen fulminanten Roman du geschrieben hast. Sie hören mit einem Ohr zu, begutachten ihre manikürten Nägel, blicken dann abrupt auf und fragen: „Und warum ist dein Roman in Russland erschienen? Du kommst doch aus Belarus?“
Nein, kein Roman über Lukaschenka
Wie soll ich ihnen erklären, warum der Roman in Russland erschienen ist? Vielleicht, weil es sich um eine Dreiecksgeschichte handelt: ein schreibender Intellektueller, ein durchgeknallter Diktator und Stasimann und eine Dame für zwei? „Ein Roman über Lukaschenka?“ gähnt einer aus der Tiefe des Raumes.
„Nein“, antworte ich gereizt. „Ein Roman nicht über Lukaschenka!“ „Also wie jetzt, warum ist er nun in Russland erschienen?“ „Na weil!!! Himmel!! In Belarus!!! Bereits gesetzte! Bücher aus dem Verkehr gezogen werden! In denen bloß! Die Beziehungsgeschichte zu Brüderchen Russland! Falsch interpretiert wird! Ganz zu schweigen von einem Roman, in dem das Wort „Diktator“ vorkommt!“
Das will ich ihnen ins Gesicht schreien, lasse es aber bleiben. Ich weiß ja: Ich müsste ihnen erklären, was „unsere Beziehungen zu Brüderchen Russland“ sind. Zum Teufel mit ihnen! Ich gehe auf mein Zimmer. In meinem Zimmer ist die schöne Jelena, eine populäre Autorin aus Russland. Sie schreibt über Vampire, deshalb erreichen ihre Auflagen das Hundertfache von meiner bescheidenen „Paranoia“.
Wieso trinke ich mit ihr Cognac, wo sie doch über Vampire schreibt? Weil Jelena am Gorki-Literaturinstitut studiert hat, der renommiertesten Schreibschule der russischsprachigen Welt. Und weil sie haufenweise Geschichten über russische Schriftsteller erzählen kann, bei deren Namen den Leuten im Westen die Augenbrauen auf die Stirn wandern. „Gehen wir zu mir“, schlägt die schöne Jelena vor. Wieviel Sinn in diesen Worten steckt. Ich habe, könnte man sagen, drei Tage lang auf sie gewartet, auf diese Worte. „Ich komme“, sage ich. „Ich klappe noch eben den Laptop zu.“
500 Dollar Bußgeld für einen Roman
Vorher schaue ich noch rasch in meine Mails und lade die ohnehin geöffnete Website der Zeitung „Nasa Niva“ neu. Keine neuen Mails, aber Moment, was ist das? Aus den Schlagzeilen von „Nasa Niva“ springt mich mein Name an. Dann ein Foto. Mein Foto. Tatsache, da steht „Viktar Marcinovic“ und etwas über mein Buch. Ich lese kurz rein, und meine Nackenhaare stellen sich auf. „Heilandsack!“ entfährt es mir. „Was ist los?“ fragt Jelena erschrocken. Ich hatte noch nie in ihrer Gegenwart geflucht, wohl überhaupt noch nie in Gegenwart einer Dame. „Heilandsack, schau dir das an, jetzt haben sie mich am Arsch …“
Ich übersetze ihr aus dem Belarussischen: „Viktor Marcinovics Roman wird aus den Buchhandlungen entfernt.“ Und weiter: Irgendwelche Leute suchen alle Verkaufsstellen auf, an denen „Paranoia“ zu haben ist, und verlangen, dass es aus dem Sortiment genommen wird. Ansonsten würden 500 Dollar Bußgeld fällig. Am Abend geht mein Bus. Am Morgen danach werde ich an der belarussischen Grenze sein. „Die buchten mich ein“, sage ich zur schönen Jelena. „Jetzt buchten sie mich garantiert ein.“ „Nur die Ruhe“, meint sie und streicht mir übers Haar. „Das spielt alles keine Rolle.“ Und sie ergänzt: „Was machen Sie dem Rotschopf für eine Biografie!“ Ich habe nicht am Gorki-Institut studiert.
Aber auch ich kenne dieses Zitat. Das sind die Worte Anna Achmatowas nach der Verurteilung des unbequemen Rotschopfs Iossif Brodski wegen Parasitentums durch ein sowjetisches Gericht. Später bekam Joseph Brodsky den Nobelpreis. Ob er wohl genauso gelitten hat wie ich in jener endlosen Nacht von Tallin? Ich brauche nicht zu erzählen, was mir alles durch den Kopf ging, während ich auf den Bus wartete. Den kritischen Punkt hatte ich am Busbahnhof erreicht, und der Busbahnhof von Tallinn ist wirklich toll.
Plötzlich lasen alle das Buch
Dort gibt es WLAN, ein nettes Café, und ich war online, trank Cappuccino und las, wie ausgerechnet mein Buch aus den Regalen verschwand. Ich las, dass die „Narodnaja vola“, die populärste unabhängige Zeitung in Belarus, einen Textauszug abgedruckt hat, dass irgendwelche Fans das Buch eingescannt und ins Netz gestellt haben, dass auf einmal Tausende, Zehntausende meinen Roman lasen – ein unverhoffter, beunruhigender Popularitätsschub.
Mir wurde klar, dass ich ohne weiteres den nächsten Polizisten ansprechen und mit fester Stimme erklären könnte: „Ich bin Viktar Marcinovic, mein Buch wurde in meiner Heimat aus dem Verkehr gezogen. An der Grenze droht mir vermutlich dasselbe Schicksal. Ich bitte um politisches Asyl in der Europäischen Union.“ Das würde aber bedeuten, Minsk nie wiederzusehen, die Stadt, der „Paranoia“ gewidmet ist. Das würde bedeuten, zu kneifen, und da geht es ans Eingemachte. Also stieg ich in den Bus „Tallinn–Minsk“.
Er kam mir vor wie ein Aufzug: hier der Eingang mit WLAN und Cappuccino, dort Stacheldraht und Gitterstäbe. Ich setzte mich, und der Aufzug fuhr los. Ein paar Mal, es wird in Riga und Vilnius gewesen sein, wäre ich am liebsten aus diesem unbarmherzig auf meine mögliche Verhaftung zusteuernden Gefährt gesprungen und davongelaufen. Aber die Grenze empfing mich denkbar leidenschaftslos.
Der Grenzer gab mir den gestempelten Pass zurück, weit und breit war keiner dieser Männer im grauen Jackett zu sehen, die ich mir schon in allen Details ausgemalt hatte. Ich blieb frei. Sie hatten meine Biografie noch nicht fertig gestellt. Gott sei’s gedankt! Ein Jahr danach saß ich im geräumigen Büro eines einstigen Kommilitonen, an der Wand hing ein Lukaschenko-Porträt. Unsere Wege hatten sich vor langer Zeit getrennt: Ich schrieb Bücher, die Menschen wie er verboten; er verbot Bücher, die Menschen wie ich schrieben.
Ich war in der Hoffnung gekommen, er könnte vielleicht „Paranoia“ zurück in die Regale bringen. „Du hältst uns ganz schön auf Trab“, grinste er auf meine vorsichtige Frage hin. „Von da“, er wies mit dem Kopf in Richtung einer der Sicherheitsbehörden, „kam die Anfrage zu prüfen, ob ein Gerichtsverfahren eingeleitet werden soll. Ein Gerichtsverfahren“, wiederholte er Silbe für Silbe. „Textgutachten, Konsequenzen. Du kannst von Glück sagen, dass ich die Sache geprüft habe. Andernfalls …“
Wir fragen im Flüsterton nach dem Buch
Wieder grinste er. Er drängte sich als mein Schutzengel auf. Damit war er wohl nicht mehr verpflichtet, das Buch zurück in die Läden zu bringen. Er zwinkerte mir zu und sagte halblaut: „Hab’s gelesen. Oberhammer!“ Dezember 2009. Mit Paviel Sverdlou, Korrespondent von „Euroradio“ und Kunsthistoriker in einer Person, schlendere ich im Minsker Ausstellungspavillon der Volkswirtschaftlichen Errungenschaften durch den Bücherbasar. Gerade hat er mit meiner Hilfe ein gewichtiges Aufnahmegerät im Ärmel seines Pelzmantels verschwinden lassen. Wir wollen versuchen, bei privaten Händlern „Paranoia“ zu erwerben.
Dass hier ein Autor, dessen Konterfei auf der Rückseite des Umschlags prangt, sein Buch kaufen möchte, scheint keinen zu irritieren, die Leser nehmen Schriftstellerfotos längst nicht mehr wahr. Die ersten zehn Kandidaten werden beim Wort „Paranoia“ abwechselnd grün und weiß und sagen: „Was? Nie davon gehört!“ Ein paar weitere antworten kühl und ohne mit der Wimper zu zucken, allerdings etwas zu schnell. Kaum haben sie „Para …“ gehört, wehren sie schon ab: „Was? Das gibt es nicht! Was denn für Paranoia?“ Irgendwo im dritten Glied wird uns schließlich zugeflüstert: „Fragen Sie mal die Frau dort drüben.“
Wir fragen sie im Flüsterton, und sie bittet uns, kurz zu warten. Sie schließt ihren Verkaufsstand und verschwindet, wahrscheinlich ins Magazin. Mit einem Päckchen taucht sie wieder auf, zwei Exemplare, in eine schwarze Plastiktüte gewickelt. Als wir sie auspacken wollen, zischt sie: „Doch nicht hier!“ Ein tolles Gefühl: Ich habe ein Buch geschrieben, das gehandelt wird wie eine Droge. Ein Exemplar aus dem Minsker Untergrund habe ich behalten. Behalten habe ich auch den Flyer aus dem belarussischen Onlineshop oz.by „Sonderpreise für die besten Neuerscheinungen im Januar“, der in der Metro auslag: Als „Paranoia“ nicht mehr in Buchhandlungen und bei Privathändlern erhältlich war, avancierte der Roman zum Verkaufsschlager im Internet.
Ich weiß nicht, warum das Buch verboten wurde
Dabei war im belarussischen Onlinehandel 2009 einfach alles zu bekommen – vom künstlichen Penis bis zu Räucherwerk mit synthetischen Halluzinogenen. Nach einer Woche wilder Internetkäufe verschwand „Paranoia“ auch aus dem Netz. Hunderte Leser, die das Buch bestellt hatten, erhielten Bescheid, es sei nicht mehr lieferbar. Auf oz.by erschien neben dem Cover die lapidare Auskunft: „Das Produkt wird nicht mehr verkauft.“
Der Roman wurde aber weiter aus Russland geliefert und illegal aus dem Netz heruntergeladen. Fast täglich traf ich mich im Café um die Ecke mit Leuten, die mich über meinen Blog kontaktiert hatten. Und ich genoss jede einzelne Signatur in vollen Zügen. Häufig werde ich gefragt, weshalb „Paranoia“ verboten wurde. Früher habe ich geantwortet: „Weil der zentrale Antiheld als letzter Diktator Europas bezeichnet wird.“ Heute antworte ich: „Ich weiß es nicht.“ Ich weiß nicht, warum es verboten wurde.
Und ich weiß nicht, wie lang das Verbot noch gelten wird. Der ganze Rummel und die Hysterie um das Buch haben auch Leute zu „Paranoia“ greifen lassen, die es wie einen Zeitungstext zu lesen versuchten und schließlich wieder weglegten, als sie den Namen „Lukaschenko „ nicht finden konnten. Die Behörden konnten die Verbreitung des Buches nicht unterbinden, sie haben das Interesse sogar noch angeheizt.
Die Reproduktion und Vervielfältigung von Kunstwerken nach Walter Benjamin noch aufhalten zu wollen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Dies sei allen gesagt, die künftig Bücher verbieten wollen. Aber auch mir hat das Verbot nichts gebracht. Die Aufmerksamkeitswelle war bald verebbt, mein Text war ja nicht als Skandalstory angelegt, sondern für aufmerksame Leser mit ästhetischem Empfinden geschrieben, die zwischen den Zeilen zu lesen verstehen und sich nicht im Labyrinth des Sujets verirren, das sie aus den amtssprachlichen Abhörprotokollen des KGB rekonstruieren müssen.
Der Roman ist für diejenigen bestimmt, die nach der Lektüre nicht die dämliche Frage stellen: „Was war denn nun mit der weiblichen Hauptfigur?“ (ein für alle Mal: Sie wurde ERMORDET. Und NEIN, nicht NEWINSKI!) Aber zurück zur Frage, weshalb „Paranoia“ verboten wurde. Es wird wohl Paranoia dahinter stecken.
Aus dem Russischen von Thomas Weiler
Erstveröffentlicht in „Literatur und Kritik“ Nr. 471/472 März 2013.