Tschechien

Zu groß, zu spät

„Zum Skaten ist das hier der beste Ort in ganz Europa“, sagt Milan atemlos. Er wischt sich eine blonde Strähne von der verschwitzten Stirn, stößt sich mit dem Fuß vom Granitboden ab und gleitet auf eine Stufe zu. „Das ist das einzig Gute, was die Kommunisten für uns getan haben“, grinst auch der Skater Jan.

Einst stand in Prag die größte Stalin-Statue der Welt – auf der Letna-Anhöhe, deren Schiefergestein die Moldau im Tal eine Schleife schlagen lässt. Der 15 Meter hohe Diktator stand auf einem ebenso hohen Podest aus Granit. In Napoleon-Pose blickte er auf die Stadt, hinter ihm reihten sich steinerne Vertreter der sowjetischen und tschechoslowakischen Arbeiterklasse. Am Ende der Reihe hielten zwei Soldaten Wache. „Schlangestehen beim Metzger“ nannten die Prager den Koloss schmunzelnd.


Das Monstrum: Ein „Irrsinn“

Vor gut 60 Jahren dann erschütterten drei Explosionen den Letna-Berg, Stalin wurde gesprengt. Übrig blieb nur das monumentale Podest. Heute treffen sich dort Skateboarder und Verliebte.
Die Pläne für den Koloss begannen im Oktober 1949. Damals bekamen 54 tschechoslowakische Bildhauer Post. Sie sollten ein Denkmal der Dankbarkeit für ihren Befreier Josef Stalin entwerfen. In allen anderen Satellitenstaaten der Sowjetunion standen bereits Monumente des Kreml-Führers, der Druck auf die Prager Politbosse war hoch. Klement Gottwald, der erste Arbeiterpräsident der Tschechoslowakei, ließ deshalb auf Sichthöhe mit der Prager Burg die größte Stalinstatue der Welt errichten.

„Ein solches Monstrum aus Granit zu bauen war Irrsinn“, sagt Rudla Cainer, Zeitzeuge und Schriftsteller. Straßen wurden befestigt, Brücken gestützt. 17.000 Tonnen des massiven Gesteins wurden aus Nordböhmen in die Hauptstadt gekarrt. „Für die Ewigkeit“ sollte der Granit-Generalissimus über die Goldene Stadt wachen. Hunderte Bildhauer hämmerten, tausende Arbeiter schwitzten.

Am 5. März 1953 war Stalin tot, zwei Jahre vor der Einweihung des Monstrums. Neun Tage später starb auch der tschechoslowakische Präsident Gottwald. Der Bildhauer Otakar Svec, der die Statue entworfen hatte, wurde drei Monate vor der Enthüllung auf dem Boden seiner Küche gefunden. Neben ihm lag eine leere Packung Schlaftabletten, der Gashahn war offen.
Über das unglückliche Schicksal von Svec ranken sich Legenden. Fest steht, dass in seinem Atelier Minister und Funktionäre ein- und aus gingen. Sie stellten immer neue Forderungen: Stalin sollte größer, die Formen weniger despotisch oder die Figuren, die dem Führer folgten, ausgetauscht werden. Das Projekt wuchs allen über den Kopf.

Nach seiner Einweihung stand Stalin noch sieben Jahre. Es kam der 20. Parteitag der KPdSU und Chruschtschows Geheimrede. Stalins Gräueltaten wurden öffentlich. Die „Tauwetter-Periode“ setzte dem Personenkult ein Ende. Über den Budapester Heldenplatz fegte im Sommer 1956 der Ungarische Volksaufstand hinweg und stürzte den dortigen Bronze-Stalin von seinem Sockel.


Bis heute keine Vergangheitsbewältigung

In Prag benötigte man zwei Parteitage mehr und zwei Tonnen Sprengstoff. Pünktlich zur Feier der großen Oktoberrevolution im Herbst 1962 war der Spuk vorbei. Die peinliche Episode wurde vom tschechoslowakischen Politbüro totgeschwiegen. Die größte Stalin-Statue der Welt hatte es nie gegeben.

„Das da oben, das gehört den Jungen“, sagt eine Rentnerin und blickt am 15 Meter hohen Sockel empor. Auf dem Sonntagsspaziergang mit ihrem Mann bleibt sie lieber unterhalb des Granitpodests stehen. Zu schnell, zu laut seien die Jugendlichen und ihre Bretter. Als die Statue noch stand, habe man sich „beim Pepik“ – zu Deutsch, „beim Beppo“ – zum Rendezvous getroffen. Der Aussicht wegen. Auch heute trifft man sich noch beim „Stalin“. Das mit Graffiti besprühte Fundament, auf dem einst einer der größten Massenmörder der Geschichte auf die Stadt blickte, bietet heute Jugendlichen, Verliebten und Touristen eine atemberaubende Aussicht.

Über die Statue selbst jedoch redet kaum jemand in Prag. Tschechien tut sich auch 20 Jahre nach der Wende noch schwer, den Kommunismus aufzuarbeiten. „Auf die Statue kann niemand stolz sein“, sagt Cainer, der vor fünf Jahren den historischen Romans „Stalin aus Granit“ veröffentlichte. Dabei sei der kahle Sockel wie gemacht für ein Museum über den totalitären Terror. Stattdessen bleibt eine Leerstelle – im Stadtbild ebenso wie in der Vergangenheitsbewältigung. Die Tschechen sollten sich ihrer Vergangenheit stellen, meint Rudla Cainer, der nach der Niederschlagung des Prager Frühlings nach Wien ausgewandert war.


Heimliche Bilder von der Sprengung

Wenige Gehminuten weiter kann man sich in die Zeit zurückzuversetzen, als über der Moldau ein Baukran aus dem Eisenbeton-Kern der werdenden Statue ragte. Im Innenhof eines heruntergekommenen Gründerzeitbaus hat Bildhauer Josef Klimes sein Atelier. Durch das Glasdach tropft Regenwasser auf den verstaubten Holzboden. Der 84-Jährige gestikuliert mit seinen steifen Händen, als er davon erzählt, wie er als junger Kunststudent an der Stalin-Statue arbeitete.

Bei den Abrissarbeiten im Jahr 1962 schlich sich der damals 34-jährige Klimes auf das streng bewachte Gelände. Die Aktion, deren Geheimhaltung wegen ihrer Dimension unmöglich war, zog ihn magisch an. Mit seinem Fotoapparat hielt er fest, was er konnte. „Die gleichen Politiker, die den Bau vorangetrieben hatten, mussten nun den Abriss anordnen. Das war eine riesige Blamage“, sagt Klimes und streicht sich durch den weiß wuchernden Oberlippenbart. „Das war der Preis für die Speichelleckerei!“

Stalins Verschwinden war ein Signal dafür, dass das Tauwetter auch an der Moldau eingesetzt hatte. Es folgten das Projekt „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, Prager Frühling, Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts, Besatzung, Normalisierung. Der mehrstöckige Bunkerkomplex, der bis heute unter dem Stalin-Sockel vermodert, diente über Jahre hinweg als Kartoffellager.


Ein Piratenradio sendete von oben

Erst nach der politischen Wende kam Leben in die weitläufigen Gemäuer. In einem improvisierten Studio im Letna-Bunker ging im September 1990 der erste nichtstaatliche Radiosender der jungen Republik auf Sendung. „Ihr hört Radio Stalin“, meldeten sich die Moderatoren des Piraten-Senders wahlweise auf Englisch, Tschechisch oder Russisch. „Mit dem Namen haben wir darauf hingewiesen, dass der Geist des Kommunismus sich nicht einfach in Luft aufgelöst hat“, erinnert sich eine der Gründerinnen des Radios, Lenka Wienerova. Vor allem aber wollte sie nach 40 Jahren Zensur endlich gute Musik hören.

Nach nur einer Woche kam die Polizei und beschlagnahmte den Sendeapparat. Den jungen Radiomachern drohten Geldstrafen. Jedoch gab es noch keine Paragraphen für illegales Radiomachen. Journalisten und Bürger sprachen sich für eine Zerschlagung des Rundfunk-Monopols aus. „Radio Stalin“ wurde zum ersten Privatsender „Radio 1“, den Wienerova bis heute leitet.

Seit 1991 steht auf dem Granitsockel ein überdimensionales Metronom. Das Kunstwerk soll die Prager daran erinnern, dass ihnen die Zeit entrinnt. Wenn nicht gerade das Geld ausgeht. Die „Zeitmaschine“ wird mit Strom aus Sponsorengeldern gespeist. Wenn diese versiegen, steht die Zeit manchmal für Wochen still.


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