Der verdrängte Holocaust
Der Name der Stadt, so stellt es sich Florin Iepan vor, sollte eines Tages zu einem Synonym werden. „Wenn er im Gewissen der Öffentlichkeit hängen bleibt, dann wäre meine Mission erfüllt“, sagt der Filmemacher.
Odessa. Die Stadt war im Zweiten Weltkrieg Schauplatz eines Großverbrechens der rumänischen Armee: Im Oktober 1941 wurden hier 24.000 Juden ermordet - einige tausend erschossen, die meisten nahe der Stadt in Lagerhallen eingepfercht und bei lebendigem Leibe verbrannt. Das Massaker von Odessa war eine Vergeltung für einen Bombenanschlag sowjetischer Partisanen auf das Hauptquartier der rumänischen Besatzungstruppen in der Stadt. Den Befehl dazu gab Rumäniens profaschistischer Diktator Ion Antonescu persönlich.
Der Film dokumentiert die Konfrontation mit der Vergangenheit
„Odessa“ lautet auch der Titel einer Dokumentation des Filmemachers Florin Iepan, die sich mit dem Massaker beschäftigt. Doch sie ist kein klassischer Dokumentarfilm, sondern die Dokumentation einer politischen Kampagne, die der Regisseur aus dem westrumänischen Temeswar seit dreieinhalb Jahren führt: Iepan konfrontiert die Öffentlichkeit im Land mit den totgeschwiegenen antijüdischen Verbrechen der rumänischen Armee im Zweiten Weltkrieg – und filmt die Reaktionen: Er passt Politiker an öffentlichen Orten ab, stört Intellektuelle zuhause, auf Veranstaltungen oder Empfängen mit unbequemen Fragen zum Massaker von Odessa, spricht in Radio- und Fernsehsendungen über das Thema.
Entstanden ist dabei bisher ein knapp anderthalbstündiger Film, den Iepan demnächst auf Veranstaltungen und Festivals in Rumänien zeigen will, wobei er wiederum Reaktionen und Diskussionen des Publikums aufzeichnen wird. Eine einstündige, für ein ausländisches Publikum gedachte Variante des Films soll in diesem Jahr in der Sendereihe „Der besondere Dokumentarfilm“ des MDR ausgestrahlt werden.
Der Film zeigt, wie sich die politische und intellektuelle Elite Rumäniens weigert, über das Massaker von Odessa, über den Holocaust an den Juden in ihrem Land überhaupt zu sprechen. Am schmerzlichsten ist das dort, wo Iepan zusammen mit dem einzigen Überlebenden des Massakers, Michail Saslawski, auftritt. Der Filmemacher hatte den heute 87-Jährigen im Zuge seiner Recherchen kennengelernt und nach Bukarest eingeladen. Saslawski konnte am 23. Oktober 1941 aus den Lagerhallen nahe Odessa entkommen. Er war damals 16 Jahre alt und verlor in dem Inferno seine gesamte Familie. Er zog nie aus Odessa weg. Nach dem Krieg war er 35 Jahre lang Arbeiter in einem Walzwerk, heute lebt er in bescheidenen Verhältnissen.
Der ehemalige Staatspräsident will ihm nicht die Hand geben
Anlässlich des 70. Jahrestages des Massakers kam Saslawski im Oktober 2011 zum ersten Mal nach Rumänien – in der Hoffnung, seine Geschichte in der Öffentlichkeit erzählen zu können. Er stieß fast überall auf Desinteresse, wie der Film in verstörender Weise dokumentiert. In einer Szene beispielsweise weigert sich Rumäniens ehemaliger Staatspräsident Emil Constantinescu, der für sich reklamiert, als erstes Staatsoberhaupt des Landes eine öffentliche Entschuldigung für die Verbrechen an den rumänischen Juden ausgesprochen zu haben, Saslawski die Hand zu geben.
Die Verbrechen der rumänischen Armee im Zweiten Weltkrieg seien „noch immer fast ein Tabuthema“, sagt der Historiker und Holocaust-Forscher Lucian Nastasa von der Universität Cluj (Klausenburg) die Ignoranz. Sein Kollege Victor Eskenasy, der in Frankfurt am Main als Publizist lebt, geht noch weiter: „Seit Rumänien in die Nato und die EU aufgenommen wurde, kehren seine Politiker zu ihren alten Traditionen, Attitüden und Überzeugungen zurück. Die Holocaust-Leugnung hat wieder Konjunktur.“
Auch der Regisseur wusste nichts von dem Massaker
Auch Iepan selbst wusste lange Zeit kaum etwas über den Holocaust in Rumänien. Die Idee zum Projekt Odessa kam ihm 2006 durch die History-Show „Große Rumänen“ im öffentlich-rechtlichen Fernsehen TVR. Für die sollte er einen kurzen Porträt-Film über den Diktator Antonescu drehen und las dabei erstmals von den antijüdischen Verbrechen in Rumänien 1941-1944.
Iepan war entsetzt darüber, wie beschönigend in der TV-Show über Antonescu gesprochen wurde. Ihn ließ das Thema nicht mehr los. Er wollte zunächst einen klassischen Dokumentarfilm über das Massaker von Odessa machen, dann verwarf er den Plan. „Der Film wäre auf einen Sendeplatz um Mitternacht gekommen und hätte nichts bewirkt. Deshalb beschloss ich, selbst vor die Kamera zu gehen.“
Eine traurige Bilanz
Drei Jahre nach Projektbeginn zieht Iepan eine eher traurige Bilanz. In einigen Medien ist zwar über den Film wiederholt berichtet worden, ein kleiner Teil der interessierten Öffentlichkeit kennt das Projekt. Insgesamt jedoch stößt Iepan weiter auf Desinteresse oder sogar Feindseligkeit. Aber er gibt sich unbeirrbar. „Ich möchte die Geschichte Michail Saslawskis solange erzählen, bis ein rumänischer Staatschef nach Odessa fährt, ihm die Hand drückt und ihn in Namen unseres Volkes um Entschuldigung bittet.“
Der 87-Jährige glaubt nicht, dass er das noch erleben wird. „Man versucht in Rumänien, Fragen zum Holocaust zu verbergen“, beschreibt Michail Saslawski seinen Eindruck von seinem Besuch in Bukarest im Herbst 2011. „Als ich dort war, haben sie gesagt, ein rumänischer Präsident hätte sich schon einmal für die Verbrechen am jüdischen Volk entschuldigt. Es klang irgendwie so beiläufig. Es hat mir sehr weh getan.“