Polen

Der letzte Klezmer

Die Stimme von Leopold Kozlowski bricht zusammen, wenn er sich an das Geschehen von vor fast 70 Jahren erinnert. Schnell wischt er die Träne ab, die über die Wange fließt und am prächtigen, weißen Schnurbart hängen bleibt. Seine fröhlichen Augen werden für einen Moment traurig. Die ganze Familie Kleinmann-Kozlowski ist im Holocaust umgekommen. Leopold aber rettete die Musik das Leben. 

Der 94-jährige Leopold Kleinman-Kozlowski, ein kleiner, runder Mann, ist Klezmer,ein traditioneller jüdischer Musiker. Kozlowski spielt die traditionellen Melodien auf seinem Akkordeon so wie vor dem Krieg, ohne moderne Einflüsse. Eigentlich spiele ein Klezmer nicht, betont Kozlowski immer wieder. „Wissen sie, woher das Wort Klezmer stammt? Von zwei Wörtern: Musikinstrument und Beten. Ein echter Klezmer betet mit seiner Geige oder Klarinette, er spricht mit Gott.“


Sie verstecken sich auf einem Friedhof

Kozlowskis Familie ist schon seit Generationen von der Musik geprägt. Sein Großvater spielt vor Kaiser Franz Josef, sein Vater, Cwij Kleinman, für das polnische Staatsoberhaupt Jozef Pilsudski. Sein Onkel, Naftali Bradtwein, emigriert vor dem Krieg in die USA, wo er zum „König der jüdischen Musik” gekrönt wird. Leopold selbst schließt die Ausbildung an einem Konservatorium ab, will mit seinem Vater in einem Ensemble spielen. Doch dann kommt der Krieg.

In Przemyslany, einer kleinen Stadt bei Lemberg, leben die Juden zunächst relativ ruhig. Dieser Teil Polens gehört seit Kriegsausbruch zur Ukraine und damit zur Sowjetunion. Doch 1941 marschieren die Deutschen in die Stadt ein. Leopold flieht mit seinem Vater und dem jüngeren Bruder Adolf weiter nach Osten. In einem Dorf bei Kiew verstecken sie sich auf dem Friedhof.


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Ein Tango rettet ihm sein Leben

Doch dann entscheiden sie sich, nach Hause zurückzukehren. „Auf dem Weg trafen wir deutsche Soldaten. Sie erkannten, dass wir Juden sind, stellten uns an einen Straßengraben und zielten auf uns mit ihren Gewehren.“ Ganz unerwartet fragt sein Vater, ob sie vor dem Tod noch etwas spielen dürfen. Sie spielen den beliebten Tango „Dieser letzte Sonntag“. Die Soldaten hören zu, und ein Wunder geschieht: „Die Gewehre sanken nach unten. ‘Ab’, sagten sie und gingen weiter. Wir haben überlebt.”

Cwij Kleinmann entkommt dem Tod nicht lange. Als Leopold, sein Vater und Bruder nach Przemyslany zurückkommen, wird die Stadt für „judenrein“ erklärt. Der Vater wird in einer Massenexekution erschossen. Leopold und Adolf landen mit ihrer Mutter in einem Arbeitslager in Kurowice.

Er spielt in den Lagerorchestern. Er spielt „Meine jiddische Mama“, „Das Städtchen Belz“, „Rozhinken mit Mandeln“. Alles, womit sie aufgewachsen sind. „Auch die deutschen Wächter haben geklatscht“, sagt er. „Keiner hat mitbekommen, dass dies die verachtete jüdische Musik war.”
Die SS-Männer hören gerne zu, wenn der junge, polnische Jude auf seinem Akkordeon spielt. Kozlowski soll sie unterhalten. Er merkt schnell, dass die Musik die einzige Chance für ihn und seine Familie ist. Er will leben. Um jeden Preis.


Der Lagerführer lernt bei ihm Akkordeon

Der Lagerführer will lernen, Akkordeon zu spielen. „An der schönen, blauen Donau“ soll Leopold ihm beibringen. „Wenn ich es kann, wirst du leben. Wenn nicht, stirbst du so, wie noch niemand im Lager gestorben ist”, droht er. Der Lagerführer ist völlig unmusikalisch. Zu Leopolds Glück sind es auch die anderen SS-Männer. Nach einer Woche bekommt der Lagerführer Applaus von seinen betrunkenen Kollegen, und Kozlowski einen Passierschein ins Leben.

Auf privaten SS-Orgien spielt er teilweise nackt. Oft hat er davor tagelang nichts gegessen. „Ich dachte, ich würde verrückt vom Geruch der Speisen, die auf den Tischen standen, und sie bewarfen mich mit Essensresten.“ Am grausamsten ist eine der Wächterinnen im Lager. Einmal steckt sie dem jungen Musiker eine Kerze in den After und lacht.


Gräber gibt es keine mehr

Als Leopold durch Zufall erfährt, dass das Lager aufgelöst werden soll, flüchtet er mit seinem Bruder. Seine Mutter wird auf der Flucht erschossen. Die Brüder schließen sich den polnischen Partisanen an. Jetzt sind sie endlich nicht mehr nur Opfer. Eines Tages wird der Bruder Adolf krank. Während die Einheit im Einsatz ist, bleibt er in dem Dorf, wo sie stationiert sind. Es wird von ukrainischen Nationalisten überfallen. Sie erschlagen ihn mit einer Axt.

Der Vater liegt in einem Massengrab, die Mutter irgendwo in der Erde beim ehemaligen Lager. Der Bruder wird in der Nähe des Dorfes bestattet, an einem Baum. Erst Jahre nach dem Krieg darf Leopold hinfahren – in die Sowjetunion, zu der seine ehemalige Heimat nun gehört. Die Baumrinde ist zugewachsen, das mit einem Messer eingeschnitzte Zeichen ist verschwunden. Leopold wählt einen Baum als symbolisches Grab. Seit Jahren kommt er immer wieder hierher und zündet eine Kerze an. „Hier ruhen sie, meine Mutter und mein Bruder.“


Solist im doppelten Sinn

„Ich wurde Solist“, sagt Kozlowski und meint damit, dass er nicht nur alleine spielte, sondern auch allein war auf der Welt. Als die Front kommt, schließt er sich der polnischen Armee an und rückt mit ihr bis nach Berlin vor. Rachegedanken kommen auf. Eines Tages überzeugt ihn ein Kamerad, sich an den Deutschen zu rächen. Die Tocher des Kameraden war von Deutschen ermordet worden.
Die Gelegenheit bietet sich nach ihrem Einmarsch in eine Kleinstadt. Einige Bewohner haben sich aus Angst in einer Halle verschanzt. Leopold und Tomasz sind entschlossen, sie zu töten. Da weint plötzlich ein Kind. Das Baby sei hungrig, es habe seit drei Tagen nichts gegessen, sagt die Mutter. Leopold und Tomasz lassen die Gewehre fallen und fahren auf einen acht Kilometer entfernten Bauernhof. Sie kommen mit Milch zurück. „So sah unsere Rache aus.“

Nach dem Krieg darf Kozlowski wieder Klezmer sein. „In Polen gab es uns nicht mehr. In ganz Europa nicht. Alle sind umgekommen. Nur in Amerika leben noch jene, die vor dem Krieg ausgewandert sind.“ Jahrelang bemüht sich Kozlowski, die alte Tradition wiederzubeleben. „Das Volk wurde ausgerottet. Die Musik musste die Menschen daran erinnern. Wer sonst sollte dazu beitragen, wenn nicht ich? Sie hat mir das Leben gerettet. Ich war ihr das schuldig.“


Er spielt gegen das Vergessen an

Noch immer tritt Kozlowski auf. Er läuft schnell durch den Konzertsaal, klettert hoch auf die Bühne. Die Absätze seiner lackierten Halbschuhe klopfen rhythmisch auf dem Holzparkett. Er zieht die Hosenträger hoch und setzt sich ans Klavier. Er spielt und singt mit einer tiefen Stimme. „Memento Moritz“ heißt das Lied, das von einem jüdischen Schuhmacher aus Krakau erzählt, der die von ihm gemachten Schuhe am Aufschlagen der Absätze erkennen konnte. Es hat ihn glücklich gemacht. Eines Tages hörter auf der Treppe Schritte, die er nicht wiedererkennt. Das waren nicht „seine” Schuhe. Diese Menschen haben ihn umgebracht.
Eine Geschichte wie diese zu erzählen, sei genau das, was ein Klezmer nach dem Krieg machen musste: „Es ist wichtig, damit man sie nie vergisst. Auch meine Mutter und mein Vater dürfen nie vergessen werden.“

Leopold Kozlowski wird musikalischer Berater in amerikanischen Filmen, die von Krieg und Holocaust handeln. In dem Film „Schindlers Liste“ von Steven Spielberg hat er eine kleine Rolle. Er und seine Schüler touren auf Konzertreisen quer durch Europa. Alles Polen und Christen, die nicht mit der jüdischen Musik aufgewachsen sind. Wie spielt man Klezmer richtig? „Die Noten weglegen, das Instrument dicht am Herzen halten. Und so spielen, wie das Herz schlägt. Das macht die Klezmer-Musik aus“, sagt Kozlowski.


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