Viel Dichtung und ein wenig Wahrheit
Im neuen Jahr soll vieles besser werden zwischen der Europäischen Union und der Ukraine. Bis zum EU-Osteuropa-Gipfel im Herbst wollen Brüssel und Kiew endlich ein Assoziierungsabkommen auf den Weg bringen, das seit mehr als einem Jahr auf Eis liegt. Es ist vor allem der Fall der inhaftierten Oppositionsführerin Julia Timoschenko, der die Europäer davon abhält, den Vertrag in Kraft zu setzen. Was aber, wenn Timoschenko gar nicht das Opfer im ukrainischen Machtspiel ist?
Zum Jahreswechsel haben die Gegner der prowestlichen Politikerin durch eine spektakuläre Veröffentlichung anonymer Computerhacker Auftrieb erhalten. Unter http://zhuzhaleaks.com/ haben ein oder mehrere Täter 5.132 angebliche E-Mails aus zwei Google- und Yahoo-Konten von Jewgenija „Zhuzha“ Timoschenko, der Tochter der Gefangenen, ins Internet gestellt.
Luxustraum und gefälschte Arztrechnungen
Wer sich durch die Seiten klickt, traut bald seinen Augen nicht. Bilder von einem palastartigen Schlafzimmer tauchen dort auf. Jewgenijas neuer Lebensgefährte soll die Fotos, die in Wirklichkeit am Computer entworfen wurden, an seine Liebste geschickt haben. Auch der Behandlungsplan der rückenkranken Mutter ist einzusehen. Schließlich dankt Jewgenija dem „lieben Professor“ für die Arztrechnung. Wenn sie alles richtig verstehe, habe man der Berliner Charité für die Physiotherapie von Julia Timoschenko im Mai 2012 noch 480.000 Euro zu bezahlen – „wegen der bereits geleisteten Anzahlung von 200.000 Euro“. Antwort von Charité-Chef Karl Max Einhäupl: „Das ist korrekt.“
680.000 Euro für eine vierwöchige medizinische Betreuung? Das klingt weniger nach Behandlung als nach Bestechung in dem politisch so heiklen Krankheitsfall. Dagegen verwahrt sich der reale Professor Einhäupl im Gespräch mit dieser Zeitung vehement. „680.000 Euro sind eine absurde Phantasiesumme“, sagt der Chefarzt. Die Rechnung sei „eine plumpe Fälschung inmitten teils gut gemachter Tricksereien“.
Gelungene Manipulation
Viel Dichtung, untermalt von wenig Wahrheit: Dieses Bild zeichnet sich von der Hacker-Veröffentlichung ab. In den Augen des Timoschenko-Anwalts Sergei Wlasenko handelt es sich um „eine Mischung aus echten und gefälschten E-Mails“. Das bestätigt auch Charité-Chef Einhäupl. „Es ist authentisches Material dabei, das zum Teil nur durch die Ergänzung weniger Wörter einen anderen Sinn bekommt.“
Dennoch drohen die angeblichen „Leaks“ Julia Timoschenko und ihr politisches und privates Umfeld in Misskredit zu bringen, zumal weder der Chefarzt noch der Anwalt Einzelheiten zu den manipulierten Dokumenten preisgeben wollen. Klar sollte sein: Eine Veröffentlichung, in der nachweislich diffamierende Fälschungen enthalten sind, kann keinen Anspruch erheben, als investigative Recherche ernst genommen zu werden. Die Charité prüft rechtliche Schritte gegen die Hacker.
Zur Erinnerung: Im Oktober 2011 hatte ein Kiewer Gericht Timoschenko zu sieben Jahren Haft verurteilt, weil die ehemalige Regierungschefin beim Abschluss eines Gasvertrages mit Russland ihr Amt missbraucht haben soll. Die EU-Kommission bezeichnet den Schuldspruch bis heute als politisch motiviert. Das Verfahren habe dazu gedient, die schärfste Konkurrentin des autoritär regierenden Präsidenten Viktor Janukowitsch handlungsunfähig zu machen.
Keine Chance sich zu wehren
Seither tobt inner- und außerhalb der Ukraine ein juristischer, politischer und medialer „Krieg“ um die Deutungshoheit im Fall Timoschenko. Anwalt Wlasenko hält die Hacker-Attacke für eine Offensive der Staatsmacht in diesem Kampf. „Ich bin sicher, dass (der Angriff) vom ukrainischen Geheimdienst SBU ausgeführt und von der Präsidialadministration in Auftrag gegeben wurde“, sagte Wlasenko dieser Zeitung.
Gegen die Angriffe wehren kann sich die Opposition nach Einschätzung Wlasenkos nicht. „Es ist zwecklos, in der Ukraine juristisch gegen die Hacker vorzugehen.“ Als Beispiel nennt der Anwalt die You-Tube-Veröffentlichung eines illegal aufgenommenen Videos von Julia Timoschenko, das die Gefangene in ihrem Krankenzimmer und bei der Physiotherapie zeigt. Es soll belegen, dass die 52-Jährige ihre Beschwerden simuliert.
Schaden für die Charité?
Die Charité-Spezialisten haben dies in einem Gutachten widerlegt. Nun könnten sie wegen der gefälschten Rechnung in den Ruf hoch bezahlter Auftragsärzte geraten. Einhäupl weist das mit Nachdruck zurück: „Wir wollen einer Patientin helfen und haben uns immer strikt am medizinischen Sachverhalt orientiert.“
Die manipulierten „Zhuzhaleaks“ haben offenkundig das Ziel, Timoschenkos Leumund in der Ukraine und darüber hinaus zu schaden. Parallel dazu werden all jene verfolgt, die ihr zur Seite stehen. Noch immer sitzen zwei Dutzend Oppositionspolitiker in Gefängnissen ein. Solange dies so ist, werden die „Leaks“ kaum zu einem Umdenken im Westen beitragen.