Tod auf der Donau
„Die Donau erinnerte an eine lang gezogene Schlange, deren Kopf im Schwarzen Meer lag, ihr Körper breitete sich über den gesamten Kontinent aus, und die Schwanzspitze verlor sich irgendwo im Schwarzwald. Der Fluss faszinierte ihn. Dorthin musste er mal fahren! Die Schlange hatte ihn hypnotisiert.
Schon als Kind ging Martin zum Lesen an die Ufer der Donau. Er stellte sich vor, wie es um ihn herum nur so vor Gestalten aus diversen Büchern wimmelte – die Seelen verblichener Schiffer, Seeleute mit einem Eisenhaken, die Schatten von Erhängten auf ihren Galgen, verrückt gewordene Kapitäne, blutrünstige Piraten und ausgesetzte Säuglinge in ihren Wiegen.
In den Donaugeschichten mangelte es nicht an Gespenstern und Geistern, die während all der schrecklichen Zeiten den Fluss heimsuchten und die Menschen in unbekannte Tiefen zogen; die Wassermänner ersäuften nur zu gerne Kinder. Er träumte davon, unweit die Stimmen trauriger Mütter und Ehefrauen zu vernehmen, er hörte die Stimmen der Ertrinkenden, das Gewimmer der verlassenen Säuglinge, bis der Fluss ihre nächtlichen Klagen verschluckte.
Den Passagieren verschlug es den Atem
Der Bus nahm nach hundertfünfzig Kilometern den letzten Teil der Etappe in Angriff. In der Ferne konnte man schon die Umrisse der alten Donaubrücke erkennen. Hier nahm die Donau drei weitere kleine Zuflüsse in sich auf: die Laaber, die Naab und den Regen. So kam es, dass Regensburg als die Stadt der vier Flüsse galt.
»Meine sehr geehrten Reisenden, demnächst werden wir gemeinsam das Schiff betreten. Wenn Sie durch die vorderen Fenster blicken, erkennen sie die Donau und die sogenannte Steinerne Brücke, sie wurde 1146 auf Geheiß des bekannten Fürsten Heinrich dem Stolzen fertiggestellt. Sie wurde zum Vorbild für viele andere europäische Brücken, auch die berühmte Karlsbrücke in Prag orientiert sich an ihr. Die Brücke lässt kleinere Schiffe unter sich passieren, doch die Wege der internationalen Schifffahrt stromaufwärts enden zumeist hier. Von den ursprünglich drei Türmen blieb nur einer erhalten, man nennt ihn das Brücktor. Wer es schafft, diesen Namen zu wiederholen, der hat bei mir einen Drink frei. Und rechts von Ihnen erwartet sie bereits die America!«
Sobald die Passagiere das Schiff sahen, verschlug es ihnen den Atem. Es dämmerte, doch auf dem Blechpanzer war ganz deutlich und leuchtend die Aufschrift »MS America« zu erkennen, aus eleganten Metallbuchstaben zusammengesetzt. Das Schiff erinnerte an ein lebendig gewordenes Gemälde, das aus den Tiefen aufgetaucht war, um dort irgendwann erneut unterzutauchen. Fachleute hielten die MS America für das schönste Donauschiff. Die Konstruktion überragte alles andere in ihrer Nähe. Obenauf befand sich die Kapitänsbrücke. Der Rumpf sah aus wie ein großes Wassertier, das nur darauf wartete, mit Menschen gefüttert zu werden.
Die America hatte vor einem Jahr sogar einen Fahrtrekord auf dem Weg von Melk nach Passau aufgestellt. Ihr Innenleben hatten die Ingenieure überaus innovativ und überlegt gestaltet: drei Stockwerke mit Kajüten, ein zwanzig Meter langer Pool, ein Restaurant, eine großzügige Wellnesszone, zwei Saunen, ein Rauchersalon, es gab sogar eine kleine Bibliothek. [...]
»Bitte nehmen Sie Ihr Handgepäck mit. Die großen Taschen und Koffer wird Ihnen unser wunderbares Team direkt in Ihre Kajüte bringen. An der Rezeption holen Sie sich einfach Ihren elektronischen Schlüssel, sowie Ihren Schiffspass ab, der dazu dient, dass ich und mein Team immer wissen, ob sich alle an Bord befinden. Bitte sehr, Sie können aussteigen.«
„Haben Sie Fun”
Martin ging voraus. Eine Rampe führte zum Eingangsbereich, sie war auf beiden Seiten mit genieteten Metallleisten gesichert. Durchsichtige Glasscheiben erlaubten einen ersten Blick ins Innere.
Das Begrüßungskomitee hatte sich nach einem genau festgelegten Protokoll am Eingang aufgebaut und nickte den Ankömmlingen zu. Den Amerikanern gefiel dieses Ritual. In der Mitte stand der rumänische Kapitän Atanasiu Prunea, in weißer Hose und Hemd, er trug eine dunkelblaue Weste und eine edle Seidenkrawatte. Seine Hand zierte ein großer goldener Ring mit einem schwarzen Edelstein, und auf seiner Kapitänsmütze war mit silbrigem Faden der Name des Schiffes eingestickt. Seine Uniform war sein wertvollster Besitz, sie kostete mehr als 3.000 Euro, und er trug sie mit Noblesse. An sein Amt waren Seriosität und Haltung geknüpft, er legte auf beides Wert. Er erwartete sich von seiner Besatzung keinerlei übertriebenen Respekt, allerdings forderte er ein Mindestmaß an Anstand und Reinlichkeit. Dank seiner zahlreichen Fahrten auf den europäischen Flüssen war Atanasiu in der Lage, sich mit den Angehörigen der meisten Nationalitäten gebrochen in ihrer Muttersprache zu unterhalten. Seine Schwächen lagen beim Englischen und dem Alkohol – er hatte es nie geschafft, beides zu beherrschen. Sein fürchterliches Sprachdefizit konnte manchmal aber durchaus charmant wirken. Er begrüßte die Passagiere mit folgenden Worten:
»Also, ich willkommen to you! Haben Sie fun! You verstehen?! Danke! Thank you! Spaß, Spaß!«
Martin ging ins Innere des Schiffes, in die erste Halle, die nach Raumspray duftete, er begrüßte die Kollegen. Nach diesem ersten Tag fühlte er eine wohltuende Müdigkeit in sich aufsteigen, vergleichbar mit der von Schauspielern, die gerade ihre Premiere absolviert haben. Er war längst an das sanfte Schaukeln gewohnt, ein jeder Schritt bedeutete für ihn eine sachte, angenehme Rückkehr. Die Eingangshalle wurde von einem Stiegenabgang umfasst, den man bei Empfängen teilen konnte.
»Guten Tag, fühlen Sie sich an Bord wie zu Hause!«, erklärte der Erste Offizier Tamás Király. Bei der Begrüßung der Gäste standen ihm auch noch zwei Kollegen zur Seite, die Zweiten Offiziere Emil und Sorin.
Eisige Kühle dämpfte die Ausdünstungen der Passagiere
»Seien Sie willkommen bei uns. Guten
Abend. Erlauben Sie? Wir bringen Ihre Tasche gern zu Ihrer Kajüte.«
Weitere Besatzungsmitglieder gesellten sich dazu.
»Erlauben Sie, bitte schön, noch zwei Schritte, Madame, sehr gut!«
Am Schiff herrschte eine (für Amerikaner) ideale Temperatur, die, bedauerlicherweise, der europäischen Besatzung nicht gerade entgegenkam. Die eisige Kühle dämpfte immerhin die Ausdünstungen der Passagiere. Martin erteilte dem Ersten Offizier Tamás ganz genaue Anweisungen, welche Touristen Kinderportionen wünschten, wer welches gesundheitliche Handicap aufwies und beschrieb auch die Lage von Clark Collis, dem man das Essen würde servieren müssen.
Die Passagiere brauchten jetzt Schlaf. Sie tranken ein Glas Orangensaft, holten sich ihre elektronischen Schlüssel ab und gingen zu ihren Kajüten. Die VIPs erhielten die schönsten Zimmer am Oberdeck, die doppelt so groß waren wie alle übrigen. Die anderen mussten aufs Unterdeck. Martin fühlte sich erschöpft, ausruhen konnte er sich allerdings jetzt noch nicht.”