20 Jahre getrennte Wege
Staatlich verordnete Böllerschüsse über Bratislava, so wie in der Nacht zum 1. Januar 1993, wird es in der kommenden Silvesternacht nicht geben. In Tschechien wird der Präsident in seiner Neujahrsansprache maximal drei Sätze auf das 20 Jahre zurückliegende Ereignis verschwenden, das seinerzeit 15 Millionen Tschechen und Slowaken bewegte. Während die Deutschen noch im Glückstaumel der Wiedervereinigung waren, gingen Tschechen und Slowaken 1993 nach mehr als 70 Jahren in einem gemeinsamen Staat eigene Wege.
Die Slowakei hat Tschechien überholt
Viele Tschechen meinten damals, die Slowaken würden nach ein paar Wochen um Rückkehr flehen. Mit 20 Jahren Abstand ein Irrglaube. Die Slowakei steht heute auf vielen Gebieten besser da. Das Land hat wirtschaftlich massiv aufgeholt und bereits vor Jahren den Euro eingeführt. Die Wirtschaftskraft der Slowakei hat sich in den 20 Jahren der Selbständigkeit um 100 Prozent erhöht, die tschechische nur um die Hälfte. Noch geht es den Tschechen zwar besser, aber die Schere schließt sich mehr und mehr. Die Slowaken haben für den Aufschwung harte Reformen durchlitten, die die Tschechen abgelehnt hätten.
International ernteten beide Länder Hochachtung für die friedliche Art ihrer Trennung. Aber beide Staaten sind kleiner geworden und haben damit an Einfluss verloren. Der frühere tschechoslowakische Außenminister Jiri Dienstbier nannte die Teilung des Landes einst die „Torheit des Jahrhunderts“ angesichts der Tatsache, dass die Tendenz in Europa gegenläufig war, auf mehr Zusammenarbeit hinauslief.
Die Trennung war unumgänglich
Doch der Schlussstrich war absehbar. Die Slowaken wurden 1918 nur deshalb in den gemeinsamen Staat geholt, damit die Tschechen eine größere Mehrheit gegenüber den Deutschen hatten, die damals seit 800 Jahren in den böhmischen Ländern lebten. Masaryk, der Gründer der Tschechoslowakei, versprach den Slowaken weitgehende Autonomie. Es blieb bei dem Versprechen.
Unter Hitler wechselten die Slowaken zum ersten Mal die Seite, ließen die Tschechen im Stich und waren stolz auf ihren ersten selbständigen Staat. Nach Kriegsende gab es einen Neuanfang. Nach dem Prager Frühling 1968 wurde das Modell einer tschechisch-slowakischen Föderation geschaffen. Pro forma wurde die Gleichberechtigung beider Landesteile bis ins Lächerliche getrieben: Selbst die Spiele der gemeinsamen Fußballnationalmannschaft kommentierten ein tschechischer und ein slowakischer Reporter im Wechsel. Doch de facto wurden die Entscheidungen weiter in Prag getroffen, Bratislava blieb Provinz.
Die Tschechen haben Vergangenheit, die Slowaken eine Zukunft
Nach den Wahlen 1990 gewann der Gedanke einer slowakischen Souveränität an Zulauf. Als der neue gemeinsame Präsident Vaclav Havel zuerst nach Deutschland und nicht nach Bratislava reiste, wurde er dafür später in der Slowakei mit faulen Eiern empfangen. Als Havel eine Volksabstimmung über die Zukunft der Tschechoslowakei anregte, wusste jeder, dass die Mehrheit zwar für die Beibehaltung des gemeinsamen Staates war. Doch beharrten die Tschechen auf einem Zentralstaat oder einer Föderation, die Slowaken auf einer losen Konföderation mit stark erweiterten Befugnissen für die beiden Teilrepubliken.
Die Wahlen 1992 leiteten die Trennung ein. Während in Tschechien die Wirtschaftsreformer um Klaus gewannen, holte in der Slowakei der Nationalist Vladimir Meciar einen triumphalen Sieg. Als die Slowaken eine Souveränitätserklärung annahmen, trat Havel zurück.
Der einflussreiche Kommentator Lubos Palata, der 2001 aus Prag nach Bratislava gegangen war und dort fünf Jahre bei einer großen Tageszeitung arbeitete, sieht 20 Jahre später die größeren Entwicklungschancen in der Slowakei: „Als Nation haben wir Tschechen eine schöne Geschichte und noch schönere Erinnerungen an die Vergangenheit. Die Slowaken aber haben eine Zukunft. Ich fürchte mich, in zehn Jahren zu bereuen, nicht für immer in der Slowakei geblieben zu sein.“
Offiziell die besten Nachbarn
Die EU-skeptischen Tschechen debattieren gern darüber, ob es nicht besser wäre, die Europäische Union zu verlassen. Allein könne man es besser, sagen sie in Erinnerung an „goldene Zeiten“ der Ersten Republik, als die Tschechoslowakei eine Art „zweite Schweiz“ gewesen sei. Nie wird in diesen seltsamen, völlig realitätsfernen Debatten darüber gesprochen, dass zu dieser Tschechoslowakei damals eben auch die Slowakei gehört hat.
Auch das spricht für die bis heute anhaltende Arroganz in Prag gegenüber den Slowaken. Die vergeht auch nicht durch die Tatsache, dass Tschechen und Slowaken sich offiziell die liebsten Nachbarn sind, gemeinsame „Superstars“ suchen, über gemeinsame Ligen für Fußball und Eishockey nachdenken und Soldaten in gemeinsame Friedensmissionen schicken.
Ein gemeinsamer Staat würde heute nicht mehr funktionieren. Nicht nur, weil tschechische und slowakische Schulkinder die Sprache des anderen Volkes nicht mehr richtig verstehen. Eine neue Tschechoslowakei wäre genauso künstlich wie die von Masaryk geschaffene. Und die Deutschen, für die die Slowaken einst als Gegengewicht herhalten mussten, gibt es schon lange nicht mehr millionenfach. Die große Masse ist nach 1945 bekanntlich kollektiv vertrieben worden.