Weihnachten bei den letzten Sachsen
In manchen Angelegenheiten gibt es keine Gnade: „Manfred hat noch vier Tage zu leben”, seufzt die über 70-jährige Sara Dootz auf Deutsch, den kleinen Körper an die Kirchenmauer gestützt. „Ich weiß nicht, ob der Herrgott mir das verzeihen kann”, sagt sie und zieht mit dem Spazierstock Kreise in den Sand. Manfred hat ein Kampfgewicht von 180 Kilogramm und bald ist Weihnachten. Da werden in Deutsch-Weißkirch (Viscri), einem Dorf im rumänischen Siebenbürgen, die Schweine geschlachtet. Bei 180 Kilogramm ist Schluss, diese Regel gilt seit Jahrhunderten. Und die Tradition wird in Deutsch-Weißkirch hoch gehalten. Auch wenn kaum noch jemand da ist, der sie weitergeben kann.
Seit dem 12. Jahrhundert wird Deutsch-Weißkirch zwischen den Städten Brasov und Sighisoara von Siebenbürger Sachsen bewohnt. Einst hatte der ungarische König Géza II. die Menschen im deutschen Siedlungsgebiet aufgerufen, sein Land urbar zu machen – und vor allem – die christliche Religion zu verbreiten. Wer damals, in Zeiten der Kreuzzüge nicht bis nach Jerusalem ziehen wollte, der nahm sich die Heiden in Mittel- und Osteuropa vor. Ein Selbstverständnis, von der die Wehrkirche auf dem Hügel, mittlerweile wie das gesamte Dorf UNESCO-Weltkulturerbe, bis heute zeugt. Die Vorfahren von Sara Dootz sind damals aus dem heutigen Gebiet Luxemburgs nach Rumänien gekommen. Ihre Spuren finden sich bis heute in der Mundart der Region.
Heute leben nur noch 15 Sachsen in Deutsch-Weißkirch
Gesprochen wird die Mundart indes nur noch von einer Handvoll Menschen. Von 300 Siebenbürger Sachen haben 200 Dorfbewohner in den ersten drei Monaten nach dem Sturz von Machthaber Nicolae Ceausescu 1989 Deutsch-Weißkirch in Richtung Deutschland verlassen. Weitere folgten. Wenige Jahrzehnte im Sozialismus haben dem Dorf die Menschen entwendet. Heute leben in Deutsch-Weißkirch noch 15 Sachsen. Kinder gibt es keine mehr.
Caroline Fernolend ist wie ihre Mutter geblieben. „Irgendwie wollte ich dieses Erbe erhalten und beweisen, dass der Kommunismus unsere Köpfe nicht vollständig zerstört hat”, sagt sie. Gerade die erste Zeit nach dem Umsturz sei aber „unglaublich schwer gewesen”: Bei jedem abendlichen Milchholen zeugte ein neu verriegeltes Haus von einer weiteren Familie, die ihr Glück im Westen versuchte.
Arbeitslose Roma beteiligen sich an Rettung des Dorfes
Die Häuser standen allerdings nicht lange leer. Roma, die zuvor außerhalb des Dorfes gewohnt hatten, zogen ein. Nach der Schließung der Kolchose hatten die Menschen keine Arbeit. Das Dorf selbst war Anfang der 1990-er Jahre in einem desolaten Zustand. Die zugezogenen Bewohner hatten zudem keinen Bezug zu ihren neuen Häusern. Geld war in dieser Zeit in Rumänien nirgendwo aufzutreiben.
Doch Caroline Fernolend machte aus der Not eine Tugend. „Ich habe mir gedacht, dass man diese beiden Aspekte, die Arbeitslosen und den Zustand der Höfe, irgendwie kombinieren muss”, erzählt die 48-Jährige in der Stube ihres Hauses. Die Idee: Die neuen Bewohner sollten das traditionelle Handwerk erlernen, das Dorf restaurieren und gleichzeitig ein Verantwortungsgefühl für die historischen Häuser entwickeln. Finanziert wurde das Projekt von ausländischen Organisationen, u.a dem britischen Mihai Eminescu Trust, der sich für den Erhalt der Dörfer Siebenbürgens einsetzt. „An die Touristen habe ich damals nicht gedacht”, lacht Caroline.
An Sommertagen spazieren heute hunderte Gäste über Hauptstraße, an der sich links und rechts die Bauernhäuser reihen. Deutsch-Weißkirch gilt als eines der wenigen im Originalzustand erhaltenen Dörfer der einst einflussreichen deutschen Minderheit in Rumänien. Die Ursprünglichkeit des Bauernlebens aus vormoderner Zeit lässt sich in alternativen Reisekatalogen bestens verkaufen. Die Idylle der im Dorfbach baden die Gänse und der Wollschweine, die sich in der Hoferde suhlen, ist im Westen stark nachgefragt.
Deutsch-Weißkirch ist eine Marke geworden
Caroline selbst sieht den Tourismus zwiespältig. Sie will das Dorf erhalten, die Touristen bringen Geld. Sie ziehen aber auch Investoren und „Opportunisten” an, wie sie sagt. Die Häuserpreise in Deutsch-Weißkirch übersteigen jene im Nachbardorf mittlerweile um das Zehnfache. Seit der britische Prinz Charles, der Schirmherr des Mihai Eminescu Trust, sich den blauen Hof am Eingang des Dorfes gekauft hat, sowieso. „Wir sind eine Marke geworden”, sagt Caroline nachdenklich. Die Gäste bringen das einfache Leben, das Aushängeschild der Gemeinde, aus dem Takt. Nicht nur, wenn die Kühe auf ihrer allabendlichen Rückkehr den Eingang zu ihrem Hof nicht finden, weil ein ausländisches Auto davor parkt.
Den größten Richtungskampf muss Caroline indes mit den Dorfbewohnern selbst austragen. Die Verhältnisse in Deutsch-Weißkirch haben sich auch durch die Gäste verbessert. Nur drei Familien beziehen Sozialhilfe, ein geringer Satz in der Region. Die Touristen sind für viele der Roma-Familien zum Garant eines bescheidenen Wohlstands geworden.
„Das Dorf ist jetzt schöner hergerichtet als früher”, gibt derweil die alte Frau Dootz zu, „aber der Gottesdienst ist leer”. Selbst der Pfarrer muss aus einer Nachbargemeinde anreisen. Sie schließt das Tor zur Kirche mit einem schweren Eisenschloss und nimmt den Weg nach Hause. Ihrem Schwein Manfred will sie etwas Besonderes zum Fressen richten. Eine Art Henkersmahlzeit. Noch vier Tage lang.
Die schleichende Übergabe des Dorfes
Am 24. Dezember wird sie dann gemeinsam mit ihrer Enkelin ein lateinisch-deutsches Lied anstimmen, so will es der Brauch. Wenn früher die konfirmierten Mädchen das Lied aus den vier Ecken des Dorfes sangen, sind heute nur noch vier Frauen übrig. Eine fünfte übernimmt den Männerpart auf der Orgel der Wehrkirche. Gegen die Heiden hatte man sie einst selbstbewusst gebaut, gegen die sozialistische Misere konnte sie die Bewohner nicht schützen. Am Heiligen Abend aber wird sie sich füllen. Die Christmette wird inzwischen auch von den zugezogenen nicht protestantischen Familien besucht.
„Ich weiß, dass es in 100 Jahren hier keine Sachsen mehr geben wird”, so Caroline. Sie hat sich damit abgefunden. Davon, dass die neuen Bewohner sich um das Dorf kümmern werden, ist sie aber überzeugt. Wenn auch aus anderen Gründen als sie selbst. „Ihre Motivation ist rein wirtschaftlich”, sagt sie – „aber solange sie gut vom Dorf leben können, werden sie es nicht zerstören.” Ob Deutsch-Weißkirch nicht Gefahr laufe, zu einer Art Bauernhof-Disneyland zu werden, mit schönen Fassaden aber ohne entsprechenden Inhalt? Caroline zögert. Es ist eine Frage, auf die sie offenbar für sich keine Antwort gefunden hat.
Sie selbst kann ihre Vorfahren direkt bis 1699 zurückverfolgen. 1750 wurden erstmals drei nicht sächsische Familien in der Dorfchronik angeführt. Es ist ein Verhältnis, das sich heute ins Gegenteil gekehrt hat.