Das schwere Erbe Stalins
Das Bizarrste an diesem Ort ist das Pantheon. Im schummrigen Licht geht es hinauf, der Blick fällt auf eine Totenmaske aus Metall. Larissa Gasaschwili eilt sogleich aus der Ruhmeshalle hinaus, als ob sie sagen wollte: „Ach, das gibt es eben auch noch, wie soll man es schon loswerden?“ Vor einigen Jahren noch blieb Larissa Gasaschwili hier stehen, minutenlang, die Maske war angestrahlt, ein großer Moment. Sie konnte stundenlang erzählen, über einen starken Mann, der das Land zu einem Siegerland machte, über einen Jungen von hier, der Stadt, aus der sie selbst kommt, Gori, im hügeligen Osten Georgiens. Es war ihre Pflicht. Wie es überhaupt Pflicht war, nur gut über den sowjetischen Diktator Josef Stalin zu sprechen. Wie es dann zur Pflicht wurde, ihn zu verdammen.
Manche Georgier huldigen Stalin noch immer
Seit 25 Jahren ist Larissa Gasaschwili hier, schreitet durch die sechs Säle des Museums von Gori, das wie kaum etwas anderes im Land zeigt, wie schwer sich die Georgier mit ihrer Vergangenheit tun. Wie kompliziert ihr Verhältnis zu dem Mann ist, der in dieser Stadt, nur 80 Kilometer von der Hauptstadt Tbilissi entfernt, aufwuchs, der später als Sowjetherrscher Millionen Menschenleben zerstört hat, mit erzwungenen Geständnissen, monströsen Schauprozessen, menschenverachtendem Straflagersystem in den unwirtlichsten Gegenden des riesigen Landes. Mit diesem Iosseb Dschugaschwili, der hier in Gori in einem Steinhäuschen zur Welt kam, und für den sie gleich daneben in den 1950-ern ein monumentales Museum bauten, dem sie huldigten und den sie verehrten. Manche Georgier tun es bis heute.
Iosseb Dschugaschwili kommt 1878 in Gori zur Welt. Der Vater ist Schuhmacher, die Mutter Waschfrau. Die Geschwister sterben nach der Geburt, er wächst als Einzelkind auf. Bis er 11 ist, spricht er nur Georgisch.
Mit 14 Jahren wird er in einem Priesterseminar aufgenommen, aus dem er fünf Jahre später hinausfliegt. Er soll sich an revolutionären Aktionen beteiligt haben. 1903 schließt er sich den Bolschewiki unter Lenin an, wird nach Sibirien verbannt. 1912 gibt er sich den Kampfnamen Stalin, der Stählerne. Nach Ende der Zarenherrschaft 1917 steigt er immer weiter auf, nach dem Tod Lenins ist Stalin Generalsekretär der Kommunistischen Partei.
Während der Großen Säuberung in den 1930-er Jahren vernichtet Josef Stalin alle potentiellen und vermeintlichen Gegner seiner Herrschaft.
Zweimal heiratet er. Die erste Frau, Ketewan Swanidse, stirbt vier Jahre nach der Heirat an Fleckfieber, der gemeinsame Sohn Jakob begeht Selbstmord in deutscher Gefangenschaft während des Zweiten Weltkrieges. Die zweite Frau, Nadeschda Allilujewa, schießt sich ins Herz, seine Lieblingstochter Swetlana, sie starb im vergangenen Jahr, wandert Ende der 1960-er Jahre in die USA aus.
Am 5. März 1953 stirbt Stalin auf seiner Moskauer Datscha an den Folgen eines Schlaganfalls. Bei der Trauerfeier gibt es etliche Tote im Gedränge. Seine Leiche wird einbalsamiert und neben Lenin im Mausoleum auf dem Roten Platz aufgebahrt. 1961 wird er an der Kremlmauer beigesetzt.
„Stalin war ein Phänomen, eine überragende historische Figur“, sagt Robert Maglakelidse. Der 63-Jährige war bis vor einem Jahr noch Direktor des Stalin-Museums. In den Hallen finden sich Stalins Kinderbilder und die pompösen Geschenke aus Deutschland, China oder Bulgarien. Die Mitarbeiter zeigen das weiße Telefon des Diktators und seinen Generalsmantel, sie führen die Besucher durch dessen gepanzerten Zug. Es ist eine merkwürdige Mischung. Maglakelidse fragte nicht nach, als er den Stuhl räumen musste. „Was kommt, das kommt“, sei schon immer sein Lebensmotto gewesen. Gern verteilt er Stalins Gedichte.
Für die Jüngeren ist er ein Mythos
„Welch‘ Fähigkeiten schon in so jungen Jahren“, sagt er dann, wie er auch Sätze von sich gibt wie „Stalin war ein einfacher Mensch, der Gutes wollte, wäre da nicht das Politbüro.“ Der Ex-Direktor ist ein ambivalenter Mann, wie so viele in Georgien. Er ist es, der seine „Stalinsche Disziplin“, die er im Museum verordnete, auch heute noch hervorhebt, er war es aber auch, der dafür sorgte, dass Zeugnisse aus den 30er Jahren im Haus auftauchten, dass die Museumsführer von millionenfacher Liquidierung von Menschen sprachen. Der monströse Kasten an der Stalin-Allee – die Straße heißt bis heute so – öffnete sich ein wenig, nach so vielen Jahren des Anhimmelns.
„Die Älteren bringen Stalin immer noch Liebe entgegen, die Mittelalten sind unsicher, für die Jüngeren ist er ein Mythos“, sagt David Dschischkariani. Der Historiker ist 26 Jahre alt und einer von gerade einmal vier Wissenschaftlern in Georgien, die sich dem Thema Stalinismus widmen. Er will „reden, ergründen, begreifen“. Mit anderen jungen Historikern hat Dschischkariani eine Nichtregierungsorganisation gegründet, die sich der Erforschung des sowjetischen Georgiens zur Aufgabe macht. Sie digitalisieren Archivzeugnisse, veröffentlichen Zeitzeugendokumente. Dafür bringt Dschischkariani schon einmal nach vier Monaten täglicher Visite einen ehemaligen NKWD-Mann zum Sprechen, redet auch mit einer 105-Jährigen, die das Jahr 1937, die Anfänge der Großen Säuberungen, miterlebt hat. In diesen Tagen jährt sich die Katastrophe zum 75. Mal.
Die Erzählungen nehmen die jungen Männer auf, machen sie zugänglich für die Öffentlichkeit. Nur hören will sie kaum jemand. Das offizielle Georgien pflegt einen eigenen Kurs der Vergangenheitsbewältigung. Das spiegelt sich vor allem im Okkupationsmuseum wider, das in einem verdunkelten Raum im Nationalmuseum in Tbilissi untergebracht ist. Bilder und Aufzeichnungen erzählen hier über die kurze Blütezeit der georgischen Unabhängigkeitsbewegung 1918, den Widerstand gegen die Sowjetherrschaft, die Phasen des stalinistischen Terrors. Namensliste reiht sich an Namensliste, Zeugnisse von getöteten Männern, Frauen, Kindern. Die Fakten stimmen, doch wirken sie vollkommen aus dem Kontext gerissen, als wäre das Übel von außen über das Land hereingebrochen. Kein Wort von Georgiern als Täter.
Es ist ein Geschichtsbild, das die Sowjetzeit verdammt und so typisch ist für die ehemaligen Sowjetrepubliken, die ihre nationale Identität über den Opferstatus definieren und vor allem stalinistische Politik an der eigenen Volksgruppe thematisieren. Ob sich das unter der neuen Regierung von Milliardär Bidsina Iwanischwili ändert, ist fraglich. Der Ministerpräsident selbst sagt, er habe sich weder Gedanken zum Status der russischen Sprache in Georgien gemacht noch zum Umgang mit Stalin. Es stünden weit wichtigere Fragen an. Die Historiker um David Dschischkariani fordern aber genau das: „Wir müssen uns der Vergangenheit stellen, erst dann ist ein Weg nach Europa möglich.“
Historiker fordern Aufarbeitung
Bislang machen vor allem Anhänger des Präsidenten Michail Saakaschwili Russland für alles Übel im Land verantwortlich. Dschischkariani schüttelt da manchmal mit dem Kopf. „Wir können eine Propaganda doch nicht durch eine andere ersetzen, sonst ist es genau so eine Geschichtsfälschung wie zu Stalins Zeiten.“ Das Stalin-Museum, so befremdend es auch ist, in seinem Ausmaße, in seiner Ausstellung, die seit 1979 nicht mehr verändert wurde, so nötig sei es, sagt der Historiker, dass eben dieses Museum in Gori bleibt – als Museum der sowjetischen Propaganda.
Er träumt davon, das Haus im typischen Stalinschen Zuckerbäckerstil möge eines Tages zur Bildungs- und Begegnungsstätte werden, zu einem weltweiten Forschungszentrum des Stalinismus gar. Ein Ort für Diskussionen, nicht mehr verklärend, sondern aufklärend. Auch Larissa Gasaschwili wünscht sich das. Vor drei Jahren erst durfte die Museumsfrau die Worte „Repression“ und „Massentötungen“ bei ihren Führungen in den Mund nehmen. „Es war eine solche Erleichterung.“