Ukraine

Sportler mischen Wahlkampf auf

Samstagmittag in Stanitsja Luganska. Das Dorf im äußersten Osten der Ukraine ist in Aufruhr: Vitali Klitschko kommt! Rund zweihundert Bewohner haben sich auf dem zentralen Platz versammelt, um den Boxweltmeister zu sehen. Plötzlich bricht vor der Bühne Unruhe aus. Ein frisch vermähltes Brautpaar ist extra gekommen, um ein Foto mit dem Boxer zu schießen. Die Blitze der Kameras flackern auf, das Publikum klatscht. Endlich betritt Klitschko die Bühne und greift zum Mikrofon. Er ist heute nicht als Sportler hier, sondern als Politiker. Seine Partei Udar ist eine der drei aussichtsreichsten Parteien im Kampf um die Wählerstimmen für die Parlamentswahl am 28. Oktober.

Kampf gegen Korruption und Ungerechtigkeit

Der Wahlkampf läuft bereits seit mehreren Wochen. Aus Radio und Fernsehen tönen die Werbespots der Parteien, Wahlkampfplakate säumen die Straßen, und die Kandidaten stellen sich zahlreichen TV-Duellen. Nach einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) von Anfang Oktober liegt die Partei der Regionen von Präsident Viktor Janukowitsch mit 20,1 Prozent vorn, gefolgt vom Bündnis Vereinigte Opposition (12,1 Prozent), dem auch die Vaterlands-Partei der inhaftierten Julia Timoschenko angehört und der liberalen Partei Udar (11,5 Prozent) des 41-jährigen Boxers. Udar und Vereinigte Opposition sind sich in ihrer Ablehnung gegenüber Viktor Janukowitsch einig, kämpfen bisher aber getrennt um Stimmen.

„Ich will, dass jeder die Möglichkeit hat, zu studieren. Und zwar, weil er dafür qualifiziert ist und nicht, weil er jemandem Geld zugesteckt hat”, ruft Klitschko in die Menge. Passend zu Klitschkos Vergangenheit als Profiboxer lässt sich der Parteiname Udar auch mit „Schlag” übersetzen. Kampf der Korruption, der Armut und der Ungerechtigkeit im Land, das sind die Schlagworte, mit denen der Boxer Wahlkampf macht. Er zeigt sich rhetorisch geübt, heimatverbunden und entschlossen.

Mit dem Sport identifiziert sich jeder Ukrainer gern

Ein junger Mann im Publikum hält sich zurück mit Applaus, nickt aber zustimmend. „Vitali ist ein bekannter Mann, eine Autorität in der Ukraine”, erklärt er. „Im Sport hat er schon gezeigt, was er kann, und ich glaube, dass er auch in der Politik Erfolg haben wird!” Es sind vor allem junge Menschen, die für Udar stimmen wollen, und 70 Prozent von ihnen sind dazu ausschließlich dank des Boxers bereit, überhaupt an die Wahlurnen zu gehen.

„Sportler ziehen Stimmen, weil der Sport einer der wenigen Bereiche ist, auf den die Ukrainer stolz sind”, so die Einschätzung des Politikwissenschaftlers Andreas Umland, der seit zwei Jahren an der Kiewer Mohyla Akademie die ukrainische Politik beobachtet. Umland sieht in der Bevölkerung einen Wunsch nach neuen Identifikationsfiguren: „Die Anführer der orangefarbenen Revolution haben sich diskreditiert, die Oppositionsführerin Julia Timoschenko sitzt im Gefängnis, und der aktuellen Regierung wird vorgeworfen, zu eng mit der Wirtschaft verquickt zu sein.”

Sportler haben ein sauberes Image

Die Menschen wünschten sich verlässliche Politiker, die sich nicht in die eigene Tasche wirtschaften. Da kommt ihnen ein Sportler gerade recht: „Bei Klitschko ist eben klar, wo das Geld herkommt”, so Umland. „Er hat es sich erkämpft, im buchstäblichen Sinn des Wortes.” Zwar werfen Kritiker auch der Partei Udar Seilschaften mit Großindustriellen vor, doch der Boxer bestreitet das.

Vitali Klitschko ist nicht der einzige Sportler auf der politischen Bühne der Ukraine: Der Schwimm-Olympionike Denys Sylantjew tritt in einem Kiewer Wahlkreis als Direktkandidat an. Auch der Fußballer Andrej Schewtschenko, der während der Fußball-EM die beiden einzigen Tore für das Gastgeberland schoss, ist eine der Führungsfiguren der neu gegründeten Partei Ukraine Vorwärts.

Fußballer gegen Boxer

Die ukrainische Parteienlandschaft ist bisher alles andere als stabil, Zeichen dafür ist auch Ukraine Vorwärts. Nach Einschätzung von Andreas Umland wurde sie ein halbes Jahr vor den Wahlen gegründet, um mit der Parteiführerin Natalija Koroljewska potenzielle Wähler von Julia Timoschenko abzuschöpfen. Da passe dann auch ein Sportler wie Schewtschenko gut auf die Parteiliste. Auch Klitschkos Udar wurde erst 2010 gegründet, hat aber nach Einschätzung der ukrainischen Stiftung Demokratische Initiativen das fundierteste Parteiprogramm im aktuellen Wahlkampf. Im Gegensatz zu Schewtschenko hat Klitschko zudem schon eine gewisse politische Erfahrung: Er ist bereits zweimal bei den Bürgermeisterwahlen in Kiew angetreten und saß im Stadtrat.

Umfragen zufolge könnten Udar und die Vereinigte Opposition zusammen die Wahl zwar knapp gewinnen, aber die Mehrheit im Parlament hängt vor allem von den Direktkandidaten ab. Präsident Viktor Janukowitsch ist für diese Parlamentswahl zum gemischten Wahlsystem zurückgekehrt: Demnach wird nur die Hälfte der Sitze über Parteilisten vergeben, der Rest der Abgeordneten wird in Direktwahlkreisen gewählt. Doch gerade in den Wahlkreisen kann Präsident Janukowitsch nach Einschätzung von Politikwissenschaftler Umland seine Hausmacht besonders gut ausspielen, und die Opposition warnt vor Wahlfälschungen. Wahlkämpfer Klitschko wird derweil immer wieder gefragt, ob er auch bei den Präsidentenwahlen antreten werde. Diese Frage sei noch zu früh, antwortet er dann immer.


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