Polen

Ostalgie auf Polnisch

An der Wand leere Fleischhaken, in den Regalen nichts außer ein paar Gläsern Senf und einer Flasche Essig: Die Mangelwirtschaft aus dem sozialistischen Polen ist in einem nachgebildeten Geschäft im Danziger Museum „Wege zur Freiheit“ zu besichtigen – ganz in der Nähe der ehemaligen Lenin-Werft, wo einst die Solidarnosc gegen die Kommunisten aufbegehrte.

Nicht nur die Freiheitsbewegung von 1989, sondern auch der Alltag in der sozialistischen Volksrepublik Polen interessiert die Besucher. „Man vergisst schnell, dass diese Zeiten noch nicht lange her sind“, sagt Joanna Kauder, die jeden Tag Gruppen durch die Ausstellung führt. Gerade junge Leute und Kinder wollen genau wissen, wie man im Sozialismus lebte, erzählt Kauder.

Vor allem junge Leute entdecken gutes am Sozialismus

Mehr als 20 Jahre nach seinem Ende entdecken etliche Polen den einst verhassten Kommunismus wieder – als Projektionsfläche für das, was ihnen anscheinend im Kapitalismus fehlt. Seit mehreren Jahren geht es mit der Wirtschaft bergauf, die Löhne steigen, in riesigen Einkaufszentren gibt es längst alles zu kaufen, was das Herz begehrt. Die Fußball-Europameisterschaft bescherte Polen moderne Flughäfen, Bahnhöfe und bessere Straßen.

Dennoch sehnt sich nach einer aktuellen Umfrage des Forschungsinstituts CBOS jeder vierte Polen nach alten Zeiten zurück. Polnische Kultsatiren wie „Miś“oder „Rejs“, die den sozialistischen Alltag aufs Korn nehmen, laufen als Serien im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Spezielle Webseiten bieten diese Filme an – inklusive sentimentalen Kommentaren der Zuschauer.

Wärme statt Konkurrenzkampf

Es sind nicht nur die Verlierer der Wende, die plötzlich gutes an den alten Zeiten erkennen, sondern auch junge Leute, die den Kommunismus oft nur noch aus Erzählungen kennen. In der neu eröffneten Danziger Ostalgie-Kneipe „No to cyk“ – „Na dann Prost“ – treffen sich vor allem junge Polen. Hier gibt es Pierogi, einfache mit Hackfleisch und Kohl gefüllte Teigtaschen. Im Hintergrund läuft ein Hit aus den Achtzigern, an der Wand klebt eine Foto-Tapete mit einer Plattenbausiedlung. Auf der Theke stehen bunte Exemplare des so genannten „Wassermax“, mit dem man aus Leitungswasser Sprudel machte. In der Toilette gibt es graue Seife und graues Toilettenpapier.

Sülze und Hackfleisch erleben ein Comeback

„Früher konnte man in einer staatlichen Milchbar ein ordentliches und günstiges Mittagessen bekommen. Heute gibt es hier ja fast nur noch Muscheln und Scampi“, sagt Roman, ein Tourist aus Breslau. Anna Domaradzka und Jerzy Mackiewicz aus Danzig kommen vor allem wegen der Atmosphäre und der Dinge, die sie an ihre Jugend erinnern. „Es gab kaum Unterschiede zwischen Arm und Reich. Das gefiel mir“, sagt Jerzy. „Jetzt konkurrieren alle noch stärker untereinander als im Westen. Ständig geht es darum, wer besser gekleidet ist, wer das dickere Auto fährt“, sagt er.

Auch Barkeeper Tomek Korzeniewski verspürt mit seinen 21 Jahren eine Sehnsucht nach den Zeiten, die er selbst nie erlebt hat. „Finanziell geht es vielen jetzt besser. Doch die Beziehungen zwischen den Menschen waren damals wärmer“, ist er überzeugt. Die Gäste geraten beim Anblick von Tonbandgeräten, Schallplatten und dem alten Motorrad an der Wand ins Schwärmen. Dann erzählen sie Tomek, wie sie früher gefeiert, gelebt und gegessen haben.

Wie im Märchen

All diese Details fließen in die Speisekarte hinein. Vom Kultgetränk „Oranżada“ bis zu polnischem Bier gibt es auch eine ganze Palette von Schnapssorten. Auch die typische Sülze, die „Qualle“ genannt wurde, gibt es hier zu essen. Das Menü spiegelt mit all seinen Facetten die bittersüßen Erinnerungen der Polen an den Sozialismus wieder.

Die Führung im Danziger Museum ist zu Ende, Joanna Kauder hat viele ungläubige Fragen zum Sozialismus beantwortet. „Die Schüler und Studenten schauen mich oft an, als würde ich Märchen erzählen – nach dem Motto: Wie konnte das damals überhaupt funktionieren?“, sagt sie.


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