Tschechien

Fieberhafte Suche nach Mehrheiten

So einen Andrang hat Tschechien lange nicht gesehen. Rund 100.000 Menschen beteiligten sich am Samstag in Prag an einer der größten Demonstrationen seit der friedlichen Revolution von 1989. Sie unterstützten den Aufruf der Gewerkschaften, gegen die Sparpolitik der Mitte-Rechts-Regierung zu protestieren. „Stoppt die asozialen Reformen“, „Stoppt die Regierung“ waren die Hauptbotschaften in Reden und auf Plakaten.

Der Druck von der Straße wäre gar nicht nötig gewesen, denn seit letzter Woche zerlegt sich die Koalition von Ministerpräsident Petr Necas (ODS) im Alleingang. Den Anstoß gab wieder einmal die für ihre Eskapaden bekannte kleinste Regierungspartei Veci Verejne (VV), die gerade von einem Korruptionsskandal überschattet wird. Vizepremierin Karolina Peake zog die Notbremse und erklärte gemeinsam mit einigen Getreuen ihren Austritt aus der Partei. Am Sonntagabend beendeten die Parteien dann offiziell ihre Zusammenarbeit zum kommenden Freitag.

Ein Ende der Regierung bedeutet das in Prag aber noch lange nicht. „Wir werden weiter das Sparprogramm der Regierung stützen“, gab VV-Parteichef Radek John überraschend bekannt. Der Druck von der Straße scheint zusammenzuschweißen. Aktuelle Umfragen sagen den oppositionellen Sozialdemokraten und orthodoxen Kommunisten einen sicheren Sieg voraus. Die Partei Veci Verejne fiele dagegen tief unter die Fünf-Prozent-Hürde, sollte heute gewählt werden.

Necas hofft auf die VV-Aussteiger

Die Hoffnungen von Premier Petr Necas konzentrieren sich vor allem auf die VV-Aussteiger um Vizepremierin Karolina Peake. Ursprünglich hatte er von ihr bis Montag Fraktionsstärke (10 Abgeordnete) gefordert, um knappe Mehrheiten zu vermeiden. „Eine Variante mit zwei Fraktionen und einer Ansammlung freier Radikaler lehne ich ab, das ist keine sichere Mehrheit“, betonte Necas und hatte für den Fall vorgezogene Neuwahlen bereits für Juni angekündigt.

Doch der Premier scheint seine Worte noch einmal zu überdenken. Zwar meldete Peake prompt Vollzug, doch nicht alle ihrer Gefolgsleute wollen sich an die neue Fraktion binden. Gleichzeitig kommen zwei ehemalige Mitglieder der ODS-Fraktion wieder ins Spiel, die die Regierungspolitik in groben Zügen mittragen würden. Es spricht also einiges dafür, dass die Regierung die aktuellen Turbulenzen übersteht. Dafür spricht auch die Tatsache, dass Tschechien seit der Trennung der Tschechoslowakei nie mit klaren Mehrheiten regiert wurde.

Ob sie das Ruder bis zu den regulären Wahlen 2014 noch herumreißen kann, ist im Moment allerdings fraglich. Die Unzufriedenheit mit der Politik ist in Tschechien so hoch wie lange nicht. Gerade die Tatsache, dass die Regierung aus ihrer satten Mehrheit aus den Wahlen 2010 nicht mehr gemacht hat, dürfte ein Grund dafür sein, dass im traditionell wenig demonstrationsfreudigen Tschechien am Samstag so viele Menschen auf die Straße gingen.

Steuererhöhungen sowie Einschnitte im öffentlichen Dienst und bei den Sozialleistungen treffen nicht mehr nur die Ärmsten. Gleichzeitig könnte die lahmende Wirtschaft Impulse benötigen. Dazu kommt, dass das Verständnis für die harten Sparmaßnahmen immer mehr sinkt angesichts der Tatsache, dass Tschechien zu den wenigen Ländern der Europäischen Union zählt, die bei der Staatsverschuldung die Maastricht-Grenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts klar einhalten. Dagegen werden die wirklich ernsthaften Probleme wie die wuchernde Korruption nicht angegangen, so der Vorwurf.

Beflügelt von der überwältigenden Teilnahme und angespornt von den krampfhaften Überlebensversuchen der Regierung plant die Gewerkschaft nun den Generalstreik. „Inzwischen geht es nicht mehr darum, ob, sondern wann er stattfindet“, bestätigte Josef Stredula, Chef der einflussreichen Metallgewerkschaft, am Montagabend im Radiosender Impuls.


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