„Der Westen hält Lukaschenko am Leben“
Ostpol: Frau Radzina, wie geht es weiter in Belarus nach den Parlamentswahlen?
Radzina: Belarus verwandelt sich immer mehr in Gefängnis, in dem man weder würdig leben noch auf legale Weise oppositionell tätig sein kann. Es ist absolut alles verboten, sogar Versammlungen mit mehr als drei Menschen. Es ist eine ähnliche Situation wie in der DDR in den 1970-er Jahren. Deshalb emigrieren immer mehr Belarussen und arbeiten aus dem Ausland dafür, dass ihr Land frei wird. Lange kann dieser Zustand nicht mehr anhalten. Früher oder später kommt es zu einer Explosion, und die Diktatur bricht zusammen.
Halten sie eine „Revolution durch soziale Netzwerke“ wie Facebook für möglich? Einige belarussische Online-Gruppen rufen dazu auf.
Radzina: Das Internet kann auf jeden Fall mobilisieren. Das Problem ist, dass das Lukaschenko-Regime vor dem Hintergrund des arabischen Frühlings extrem nervös ist und zu harten Repressionen gegen Netzaktivisten greift. Viele von ihnen mussten das Land bereits verlassen. Aber sie lassen sich nicht mehr einschüchtern. Kaum wird eine Online-Gruppe aufgelöst, gründet sich am nächsten Tag eine neue.
Zur Person:
Natalia Radzina (33), ist Chefredakteurin des oppositionellen Internetmagazins charter97, des wichtigsten unabhängigen Nachrichtenportals zu Belarus. Im Dezember 2010 wurde sie im Zuge der Proteste gegen die gefälschten Präsidentenwahlen festgenommen und zwei Monate inhaftiert. Im Gefängnis wurde sie mehrfach geschlagen. Ende 2010 gelang Radzina die Flucht ins Ausland, zunächst nach Vilnius. Seit Mitte September betreibt sie charter97 von Warschau aus.
Was kann Europa tun?
Radzina: Leider steht Belarus für Europa nicht auf der Tagesordnung, die Eurozone hat ihre eigenen Probleme. Die Maßnahmen, die die Europäische Union bislang gegen das Lukaschenko-Regime unternommen hat, könnten effizienter sein. Die Visa-Sanktionen beispielsweise werden einfach umgangen. Vor allem aber fehlt es an einer eindeutigen, harten Position. Stattdessen wird die Eishockey-Weltmeisterschaft an Belarus vergeben. Das sind Signale, die für die Gesellschaft in Belarus demoralisierend sind. Sie bekommt so den Eindruck, der Westen stehe auf der Seite des Diktators, und nicht hinter dem Volk.
Sind auch wirtschaftliche Interessen im Spiel?
Radzina: Das Hauptproblem ist, dass die EU Ölprodukte aus Belarus kauft. Und das Öl-Business ist das Privatgeschäft der Lukaschenko-Familie. Der Gewinn aus diesem Geschäft geht einzig und allein in die Erhaltung des repressiven Machtapparats von Lukaschenko.
Letztlich unterstützt der Westen den Diktator also?
Radzina: Die EU, und der Westen insgesamt, halten das Regime Lukaschenko am Leben. 2008 hat Lukaschenko unmittelbar nach den gefälschten Wahlen, die vom Westen als undemokratisch bezeichnet wurden, einen Kredit vom IWF bekommen. Ohne diesen Kredit wäre der wirtschaftliche Kollaps längst da und Lukaschenko wahrscheinlich schon seit vier Jahren nicht mehr an der Macht. Es ist wichtig, dass der Westen diesmal nicht denselben Fehler macht.
Die grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck durfte nicht als Wahlbeobachterin der OSZE nach Belarus einreisen. Wie sollte Deutschland auf diesen Schritt reagieren?
Radzina: Auch hier gilt: Eine harte Reaktion, harte Sanktionen. Deutschland ist heute das Land, das am meisten die Richtung der EU bestimmt, und deshalb sollte es harte Maßnahmen gegen Belarus ergreifen. Und nicht die belarussische Miliz ausbilden helfen. Das ist skandalös. Denn das, was belarussische Sicherheitskräfte aus Deutschland gelernt haben, haben sie gegen die Opposition im eigenen Land angewendet.