Ordnung statt Freiheit
„Unser Land ist groß und reich, doch es ist keine Ordnung in ihm“, heißt es in der mittelalterlichen Nestor-Chronik. Der Verfasser berichtet darin über die legendäre Gründung der Rus, des ersten ostslawischen Reiches. Die Slawen, so schildert es der Chronist weiter, hätten schließlich die Wikinger aus dem hohen Norden ins Land gerufen, um zwischen Ostsee und Schwarzem Meer endlich Ordnung durch Herrschaft zu schaffen.
Ein Parlament ohne Opposition
Aus der Rus gingen im Laufe der Jahrhunderte Russland, die Ukraine und Belarus hervor. Viel hat sich geändert seit dem Mittelalter. Geblieben aber ist die Frage der rechten Ordnung. In Moskau begründet Kremlchef Wladimir Putin seine Herrschaft noch immer mit dem Chaos der Jelzin-Jahre. Erst die von ihm geschaffene und gelenkte Vertikale der Macht habe die Anarchie beenden können, sagt Putin. Mehr noch: Nur durch diese Macht sei die Ordnung auf Dauer aufrechtzuerhalten.
In der Ukraine versucht der autoritäre Präsident Viktor Janukowitsch, es Putin gleichzutun. Auf die Spitze getrieben hat das Prinzip „Ordnung und Sicherheit durch unumschränkte Macht“ allerdings der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko. Der Urnengang im September 2012 war eine Farce, eine reine Scheinveranstaltung. Schon bisher gehörten alle Abgeordneten dem Lukaschenko-Lager an, und so wird es bleiben.
Lukaschenko garantiert Ordnung und Sicherheit
Einfluss hat die Kammer ohnehin nicht, die wie zum Hohn Repräsentantenhaus heißt, aber allein den Willen des Diktators repräsentiert. Das wissen alle in Belarus. Zu Protesten raffen sich die meisten Menschen dennoch nicht auf. Sie fragen: „Wenn nicht Lukaschenko, wer dann?“ Dabei schwingt vor allem die Angst vor Chaos und Anarchie mit, die alle Hoffnung auf mehr Freiheit und Demokratie in den Hintergrund drängt.
Solange Lukaschenko Ordnung und Sicherheit garantiert, halten die Menschen im Zweifel zu ihm. Das Chaos der späten Sowjetjahre sowie das vermeintlich negative Beispiel der Jelzin-Anarchie in Russland und der orangenen Revolution in der Ukraine lassen die Weißrussen vor Experimenten zurückschrecken. Hinzu kommt, dass die Opposition heillos zerstritten ist und dadurch wie ein Katalysator für die Chaos-Furcht wirkt. Zu Lukaschenkos Ordnungsversprechen zählt schließlich auch der minimale Wohlstand, den der Präsident seinem Volk dank der Milliardenhilfen aus Russland noch immer bieten kann.
Das Fundament hat feine Risse bekommen
Es ist schon wahr: Das Fundament der Lukaschenko-Herrschaft hat in den vergangenen Jahren feine Risse bekommen. Da war das Bombenattentat auf die U-Bahn in Minsk, das Zweifel an der inneren Sicherheit weckte. Und da ist vor allem die dramatische Inflation, die innerhalb von anderthalb Jahren etwa die Hälfte der Einkommen und Ersparnisse aufgefressen hat. Es war kein Zufall, dass die Anti-Lukaschenko-Proteste trotz der Gewaltorgie nach der Präsidentenwahl 2010 im vergangenen Jahr erneut aufflammten. Auslöser waren damals drastisch gestiegene Benzinpreise.
Möglicher Wandel hängt von Russland ab
All das jedoch konnte Lukaschenkos Herrschaft nicht ernsthaft gefährden. Und so wird es auch bleiben, solange sich nicht in Russland Grundlegendes ändert. Eine Demokratisierung in Moskau ließe dem Diktator in Minsk nur noch die Wahl zwischen der Kapitulation und dem Versuch, sich nach dem Beispiel Nordkoreas mitten in Europa selbst einzumauern. Derzeit aber stellt sich diese Frage nicht, denn eine zweite Perestroika in Russland ist nicht abzusehen. Im Gegenteil: Putin ist zutiefst überzeugt davon, sein Riesenreich nur mit eiserner Faust zur Ordnung zwingen zu können.
Das Letzte, was Putin und Lukaschenko in den Sinn käme, wäre wohl, die Wikinger ins Land zu rufen. Übertragen auf das 21. Jahrhundert heißt das: dem Westen zu vertrauen und sich Europa und den USA zu öffnen. Wenn nicht alles trügt, werden die Nachfolgestaaten der Sowjetunion in den kommenden Jahren enger zusammenrücken und ihre eigene Ordnung schaffen. Im Mittelalter war es nicht viel anders. Die herbeigerufenen Wikinger gingen schnell in einer slawischen Führungsschicht auf. Ihre Nachfolge traten Großfürsten, Zaren und rote Diktatoren an.