Masuren - Land ohne Eile
Ich saß am Nikolaikensee, mildes Sonnenuntergangslicht schimmerte auf der Wasseroberfläche, ein paar Segelboote trieben vorüber, und gerade legte ein Ausflugsdampfer der Weißen Flotte an. Die Touristen, die hinausgefahren waren, um einen Blick auf den Spirdingsee zu werfen und unterdessen gehäkelte Deckchen und regionalen Wodka hatten kaufen können – es gab immer eine kleine Verkaufsshow, die beim Lärm der Motoren allerdings kaum zu verstehen war –, sie verließen allmählich das Schiff. (…)
Einige Wochen zuvor war ich in Masuren angekommen, angelockt vom Klang des Namens. «Masuren», das schnurrte so sanft, dass ich bereits die kleine Bahn zu hören gemeint hatte, die mich dort hinbringen würde, das Rollen der Räder auf endlosen Gleisen … Masuren. So wenig hatte ich über Masuren gewusst, dass all das, was es zu wissen gab, mir unermesslich reich erschienen war.
Masuren - das klang wie ein Verwandter Lummerlands
Nicht einmal eine klare geographische Vorstellung davon, wo dieses Masuren eigentlich lag, besaß ich. Es kam mir vor wie ein Verwandter Lummerlands, wusste man von Lummerland doch ebenso wenig, wo es genau zu finden sei, und auch dort gab es eine kleine Eisenbahn. Nur eins wusste ich: Masuren lag irgendwo im Osten Europas, und den Osten fand ich lange schon verlockender als jede andere Himmelsrichtung. Der Norden war mir zu kalt, den Süden kannte ich, der Westen schien mir so abgegrast wie die Prärie in North Dakota, nachdem eine Herde Büffel sich daran gütlich getan hat. Aus dem Osten aber kam der Mensch, von dort aus hatte er einst den Westen bevölkert, den Berliner Raum zumindest, und als Berliner fühlte ich mich.
Eine Reise in den Osten wäre wie eine Reise zu den eigenen Ursprüngen, mochten die Kirchenbücher in Westfalen auch ganz anderes behaupten. «Sie sagen, junger Mann, nach Osten fahren Sie?», las ich in Péter Esterházys Reiseroman «Donau abwärts». «Immer nur nach Osten? Aber wenn Sie dabei bleiben, wohin kommen Sie da? Na? Na? Nach Westen, jawoll! In den westlichsten Westen. Eine verrückte Sache, daß die Erde rund ist! Verstehen Sie? Die Hoffnung. Daß es nichts Östlichstes gibt!»
Tausend kleine Geschäfte und scheppernde Lautsprecher
Der Osten, das war für mich ein Trichter, der sich immer weiter öffnete, je tiefer man sich in ihn hineinbegab. Wie ein immenses Versprechen kam er mir vor, unerschöpflich. Dass die Realität angesichts solcher Vorstellung nur ernüc
htern konnte, wurde mir, euphorisch, wie ich war, mit einem Schlag klar, als ich in Osterode aus dem Zug stieg: Von wilder rauer Weite war hier nichts zu spüren. Osterode präsentierte sich trubelig, geradezu heiter und leicht an diesem sonnigen Frühlingstag.
Die Bürgersteige waren so voll, als hätte man die gesamte Einwohnerschaft aus ihren Wohnungen getrieben. Tausend kleine Geschäfte reihten sich entlang der endlosen Hauptstraße, Autos, Busse, Taxis rauschten an mir vorüber. Im «Land ohne Eile», wie Arno Surminski Masuren in «Die Reise nach Nikolaiken» nennt, war ich offensichtlich noch nicht angekommen. Alles war voller Schilder und Werbetafeln, die ich nicht entziffern konnte, und doch las ich alles, weil mein Kopf einfach nicht verstehen wollte, dass er nichts verstand. Aus einem Lautsprecher drangen scheppernd Geräusche, die sich wie eine katholische Messe anhörten, und tatsächlich, da sah ich im Fenster eines schäbigen grauen Hauses die Quelle des dröhnenden Glaubensritus und daneben ein Bild Johannes Pauls II. Kein Gesicht sollte mir in den nächsten Monaten häufiger begegnen, aber das wusste ich noch nicht. (…)
Mit Osterode oder Ostróda hatte ich das Ziel meiner Reise nach langstündiger Fahrt gleichwohl noch nicht erreicht, denn Osterode war lediglich das «Tor zu Masuren». Also nahm ich mir ein Taxi, hinterm Steuer saß Witek, und während Witek, vielleicht Anfang zwanzig, sein Handy ans Ohr hielt und vor den Mund das Funkgerät, tippte er mit dem letzten freien Finger noch «Pietrzwałd» ins Navigationsgerät.
Aus den Boxen schallte scheußliche Musik, trotz der Wärme draußen wurden noch schnell die Fenster hochgefahren, dann ging’s los, zum Tore hinaus. Witek, so stellte sich heraus, hatte bereits mehrere Jahre im Ausland gearbeitet: erst als Gartenarbeiter in Bremen, dann in einer Fabrik in Plymouth, schließlich als Koch. Dann wurden im Westen die Jobs rar, und er kehrte nach Polen zurück. Dabei, meinte er, könnten die Verhältnisse hier deutlich besser sein, besonders aus Taxifahrersicht: Nur eine einzige Autobahn gebe es in Polen, und für die müsse man auch noch Maut bezahlen! Sei das nicht verrückt? Im Ausland habe er die Autobahnen immer umsonst benutzen dürfen, und daheim müsse er dafür zahlen! Was sollten da erst die ganzen Touristen denken? Von denen gebe es hier in der Gegend ja viele, Deutsche und Engländer, überhaupt, was ich denn in Pietrzwałd wolle, ich solle doch länger in Ostróda bleiben, es sei ein so schönes ruhiges Städtchen, sagte er und bremste scharf. Gerade noch gelang es ihm, einem riesigen Schlagloch auszuweichen. «Polen!», lachte er und gab wieder Gas.
Bald darauf waren wir im ehemaligen Peterswalde angekommen, einem kleinen Dorf knapp zwanzig Kilometer südlich von Osterode, ein paar Häuser bloß und ein winziger Dorfladen. Dort ließ ich mich absetzen, kaufte eine Flasche Wass er, ein paar Äpfel und lief los. Irgendwo hier also musste es liegen, mein Ziel, die Kernsdorfer Höhen.
Das kann doch nicht Masuren sein
Bei den Kernsdorfer Höhen, so hieß es nämlich, beginne Masuren. Aber die Gegend war hügelig, und keine Erhebung stach besonders hervor. Ich hielt Ausschau nach dem Sendemast, der die höchste Höhe (putzige 312 Meter) zieren sollte. Nach einer Weile erblickte ich ihn, verlor ihn aber wieder aus den Augen, entdeckte ihn erneut und verlor ihn ein weiteres Mal. Die Landschaft zeigte sich anschmiegsam, ein sanftes Auf und Ab, um ein paar Meter bloß, aber immerhin. Die Bäume hatten schon tief Luft geholt, ihre ganze Blätterpracht aber noch nicht entfaltet. Auch die Vögel hielten sich zurück, nur ein Buchfink hüpfte hin und wieder über den Weg. Es war noch früh im Jahr, für masurische Verhältnisse zumindest: Anfang Mai. Angeblich waren die berühmten Masurischen Seen um diese Zeit mitunter noch zugefroren.
Das konnte ich nicht so recht glauben, denn schon nach dem ersten Kilometer wurde mir heiß. Ich zog meine Jacke aus und passierte ein kleines Gehöft, eine Holzscheune und schließlich, als ich meinen Weg zum Sendemast schon endgültig verpasst zu haben meinte, einen unverputzten Klinkerbau mit grellblau lackierten Ziegeln auf dem Dach.
Davor zwei Kühe, die mich anstierten. Das kann doch nicht Masuren sein, dachte ich, und tatsächlich, da erst erschien die Abzweigung: Dylewska Góra, Kernsdorfer Höhen. Kurz darauf erreichte ich den Sendemast und dahinter einen Aussichtsturm. Leider durfte ich nicht hinauf, er sei nur als Ausguck gedacht, zur Früherkennung von Waldbränden, erklärte mir ein zahnloser Waldarbeiter, dem ich begegnete. Zur Veranschaulichung kniete der Mann sich nieder und tat so, als risse er ein Zündholz an – ratsch –, um damit ein imaginäres Feuer zu legen. Ich dankte ihm, ging zur Straße zurück und folgte ihr die Höhe hinab.
Endlos zog sich die Straße hin
Nun war ich also in Masuren angekommen. Gleich auch wurde der Wald rechts und links des Weges dichter, die Gegend einsamer, und wie in einem Schauerroman geriet ich überdies zu einem alten Friedhof. Wild zerklüftet lag dort eine Landschaft aus Grabsteinen unter abgestorbenen Bäumen. Die meisten der Steine waren zerbrochen, kaum einer war noch zu lesen. Die Stimmung hätte bei schlechtem Wetter unheimlicher sein können, aber auch so war sie schon wenig angenehm. (…)
Ich aß einen Apfel und warf den Butzen in die tote Landschaft. Nichts würde hier mehr keimen, dachte ich; vielleicht würde ein Vogel den Apfel finden und sich daran laben. Doch ich hatte wenig Hoffnung. Körperlich gestärkt, wanderte ich weiter, immer die Straße hinunter. Leider hatte ich nur eine sehr ungefähre Landkarte und mithin eine äußerst vage Vorstellung davon, wie groß die Entfernungen waren. Doch die Entfernungen spielten kaum mehr eine Rolle, denn die Sonne wurde immer kräftiger, und bald schon hatte ich das Gefühl, seit Stunden unterwegs zu sein. Endlos zog sich die Straße hin, und da ich inzwischen den Wald verlassen hatte, war ich der Hitze hilflos ausgeliefert. Mein Nacken brannte, an Sonnencreme hatte ich nicht gedacht, und selbst meine Lippen wurden trocken. Mein Wasser war bald aufgebraucht, die Lippen wurden immer trockener, immer heißer wurde es im Nacken, und weit und breit war kein Schatten zu sehen.
Kein LKW hält an
In der Ferne sah ich eine große Querstraße, ab und zu fuhr ein Lkw von rechts nach links. Dort schleppte ich mich hin, in der Hoffnung, jemand würde mich mitnehmen. Aber umsonst. Niemand zögerte auch nur bei meinem Anblick; kein Wagen hielt. Man schaute mich geradezu angewidert an. Offensichtlich war es in Polen nicht nur unüblich, Anhalter mitzunehmen, offensichtlich betrachtete man sie hierzulande als Aussätzige. Den Daumen immer ausgestreckt, lief ich weiter, auf dasnächste Dorf zu, in der Hoffnung, dort eine Bushaltestelle zu finden. Immerhin gab es einen Laden, auch wenn ich ihn erst auf den zweiten Blick erkannte, es war ein kleiner Raum in einer Parterrewohnung. Ich kaufte Eis. Auf meine Frage nach einem Bus erntete ich aber nur Kopfschütteln. Also musste ich zu Fuß weiter.
Die Sonne war indessen unerträglich geworden. Nicht einmal einen Hut hatte ich dabei, und so wurde mir allmählich schummrig zumute. Unter einem Baum ruhte ich mich eine Weile aus. Aber da ich von vorbeifahrenden Traktoren herab ebenfalls abschätzig betrachtet wurde, raffte ich mich bald wieder auf. Im nächsten Ort fand ich dann Erlösung: Es gab eine Bushaltestelle, eine überdachte, schattenspendende Bushaltestelle, und der einzige Bus des Tages, er sollte ganz unwahrscheinlicherweise in einer halben Stunde fahren. Nach Ostróda.
Und so endete mein erster Ausflug nach Masuren.
Tobias Lehmkuhl, „Land ohne Eile. Ein Sommer in Masuren“
Copyright © 2012 Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin
224 Seiten, 17,95 €, 978-3-87134-733-7