Katerstimmung statt Wirtschaftswunder
Vor wenigen Monaten noch herrschte Partystimmung in der polnischen Wirtschaft: Die neuen Fußballstadien glänzten in der Sonne, moderne Bahnhöfe und Straßen repräsentierten Fortschritt und Modernität. Der staatliche Fernsehsender TVP gab vor laufender Kamera sogar Sekt an die Bauarbeiter aus, die rechtzeitig zur Fußball-Europameisterschaft im Juni die wichtige Autobahnstrecke zwischen dem zentralpolnischen Lodz und Warschau fertiggestellt hatten. Autofahrer konnten von nun an endlich ohne Verzögerungen von Berlin in Polens Hauptstadt gelangen.
Augerechnet die Baubranche macht den Ökonomen einen Strich durch die Rechnung
Nur drei Monate später ist die Sektlaune schneller vorüber als gedacht. In der Wirtschaft macht sich Katerstimmung breit. Polen hat zwar das Fußball-Großereignis im Großen und Ganzen gut über die Bühne gebracht. Doch ist der große wirtschaftliche Schub, den sich viele Politiker und Investoren erhofft hatten, weitestgehend ausgeblieben. Im Gegenteil: Die Wachstumskurven haben erstmals seit Jahren eine Delle bekommen.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist nach den aktuellen Zahlen des statistischen Hauptamtes GUS im zweiten Quartal 2012 nur um 2,4 Prozent gestiegen, nachdem es in den ersten drei Monaten noch um 3,5 Prozent geklettert war. Das ist das langsamste Wachstum der vergangenen drei Jahre – seit dem Ausbruch der Finanzkrise. Und es markiert das Ende des Wirtschaftswunders, das Polen dank steigender Gehälter und stabilem Wachstum im Gegensatz zu vielen anderen osteuropäischen Staaten seit Jahren durchlebt.
Die Lage ist „dramatisch"
Ausgerechnet die Baubranche hat den Ökonomen nun einen Strich durch die gesamtwirtschaftliche Rechnung gemacht. Eigentlich sollten gerade die Baufirmen von den Investitionen in die Infrastruktur für die EM profitieren. Doch haben gerade sie sich massiv daran verhoben. Viele Firmen mussten Insolvenz anmelden oder haben massive Zahlungsengpässe, weil sie auf Teufel komm heraus die Aufträge für die EM ergattern wollten. Sie boten viel zu niedrige Preise, die sich im Nachhinein als unrentabel und tödlich für den gesamten Geschäftsbetrieb herausgestellt haben. Mit der Firma PBG befindet sich darunter auch einer der größten Baukonzerne des Landes, der im zweiten Quartal einen Verlust von 1,6 Milliarden Zloty (380 Millionen Euro) verschmerzen musste.
„Die Lage ist dramatisch“, sagt Adam Kulikowski, der Vorsitzende der Interessenvertretung der Straßenbauindustrie OIGD. „Die Probleme häufen sich gerade zu einem Riesenberg an“, befürchtet auch der Warschauer Infrastrukturexperte Adrian Furgalski. „Diese Krankheit könnte auch auf andere Branchen übergreifen“, mutmaßt der Fachmann. Er befürchtet wie viele Ökonomen eine Entlassungswelle am Bau. Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit könnte wiederum die wichtigste Säule der polnischen Wirtschaft, den Konsum, schwächen.
Auch der Export schwächelt
Auch sonst haben sie die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für das Vorzeige-Land im Osten verschlechtert. Schwierige politische Reformen stehen an, unter anderem eine Rentenreform und Kürzungen im öffentlichen Dienst. Wegen der Euro-Krise wird wohl auch weniger Geld aus dem neuen EU-Haushalt 2014 bis 2022 nach Polen fließen. Auch der Export von polnischen Produkten in die kriselnden EU-Länder hat sich abgeschwächt. „Uns steht ein heißer Herbst bevor“, warnte unlängst Premier Donald Tusk auf einer Fraktionssitzung seiner Regierungspartei PO. Die Zeit, in der die internationale Presse Polen als Wirtschaftswunderland gefeiert hat, könnte somit schon bald vorbei sein.