Kosovo

Abgeschoben in eine fremde Heimat

„Ich hab‘ Angst.“ Xhevahire duckt sich, so als ob sie sich ganz klein und unsichtbar machen wolle. Von draußen dringen Schreie und laute Rufe durch das geöffnete Fenster. Drinnen ist es totenstill geworden. Dann noch einmal, und schließlich bringt sie den Satz nur noch als fast unhörbaren Hauch über ihre Lippen: „Mama, ich hab‘ Angst.“

Draußen schlagen sich die Albaner, glaubt ihr Vater Xhevdet Meta. Doch was wirklich los ist, weiß niemand. Keiner traut sich ans Fenster, die 9-jährige Xhevahire nicht, und auch nicht ihre fünf Geschwister und ihre Eltern, die wie erstarrt um den Tisch sitzen und nur noch flüstern. „Kosovo ist eine Katastrophe“, sagt der Vater. „Es gibt hier kein Gesetz. Vor allem nicht für uns Roma.“

Die Angst der Familie Meta kann man nur verstehen, wenn man ihre Geschichte kennt.


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Plötzlich war die Wohnung voller Polizisten

Seit acht Monaten spielt sich das Leben der Familie fast ausschließlich in der kleinen 3-Zimmerwohnung am Rande von Gjakova ab – seit der Nacht vom 6. auf den 7. Dezember 2011.

„Es war schrecklich“, erinnert sich der 11-jährige Rama. Um halb zwei klingelte es an der Tür ihrer Wohnung in der Scholienstraße 44 in Otterndorf, einer niedersächsischen Kleinstadt im Landkreis Cuxhaven. Alle hatten bereits geschlafen, seine älteste Schwester Mire öffnete die Tür, und plötzlich war die ganze Wohnung voller Polizisten. Ihr werdet abgeschoben, hieß es, zurück ins Kosovo.

Eine halbe Stunde hatten sie, um das Nötigste zusammenzupacken. Alle weinten, ohne wirklich zu begreifen, am wenigsten Xhevahire, die noch ihre Schultasche packte, weil sie noch immer glaubte, in wenigen Stunden wieder in die Schule zu gehen. Doch noch am Mittag desselben Tages stand sie am Flughafen von Prishtina – in einem Land, das sie nur aus den Erzählungen ihrer Eltern kannten. Zehn Jahre hatten sie bis dahin als geduldete Flüchtlinge in Deutschland gelebt.

Rama stellt sich abends vor, am Morgen in Deutschland aufzuwachen

„Ich kann eigentlich immer noch nicht begreifen, dass ich jetzt hier bin“, sagt Rama Meta. Als sich seine Eltern vor knapp zehn Jahren zur Flucht aus dem Kosovo entschlossen, war der Krieg durch den Eingriff der Nato zwar offiziell beendet. Doch den Roma stand die eigentliche Tragödie noch bevor: Nationalistische Albaner begannen damit, mit den im Kosovo verblieben Serben auch die Roma aus dem Land zu treiben. In dieser Zeit wurde Rama geboren. Er war ein Jahr alt, als sich seine Familie durch die Wälder Richtung Montenegro aufmachten, um sich von dort aus weiter nach Deutschland durchzuschlagen.

Wenn er nicht schlafen kann, zieht sich der schmächtige Junge jetzt manchmal die Decke über den Kopf und versucht sich ganz fest vorzustellen, dass er morgen aufwacht und wieder in Deutschland ist. Aber er wird immer noch in Kosovo sein, wird wieder aufstehen und wie seine Geschwister herumsitzen, die Wände anstarren oder ziellos in der Wohnung herumlaufen.

Seit er kurz nach der Abschiebung von Jugendlichen aus der Nachbarschaft als „Zigeuner“ beschimpft und verhauen worden ist, hat er das Haus nicht mehr verlassen. „Ein Leben in Angst ist kein Leben“, sagt sein Bruder Lumni nachdenklich und blickt durch das Fenster auf die langgezogene Straße am Rand der westkosovarischen Kleinstadt. „Wir sind hier wie im Knast, wir kennen niemanden“, sagt Rama, der kaum ein Wort der Landessprache Albanisch spricht.

Einmalig 50 Euro für Lebensmittel

Mit ihrem Schicksal stehen die Metas nicht alleine. Seit 2009 schiebt Deutschland Roma in den Kosovo ab, in ein Land, in dem es für sie nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen kaum eine Möglichkeit gibt, ihre Existenz zu sichern. In ihre Häuser können sie oft nicht zurück, weil sie im Krieg zerstört wurden, dazu kommt die anhaltenden Diskriminierung der Roma und die verheerende ökonomische Situation, unter der im Kosovo alle leiden. Kosovo ist das ärmste Land Europas. Während die Arbeitslosigkeit insgesamt bei etwa 40 Prozent liegt, erreicht sie bei Roma fast 100 Prozent.

Neben dem Eingesperrtsein und der Monotonie des Alltags ist es deshalb vor allem die existenzielle Angst, die nicht nur Vater Xhevdet Nacht für Nacht den Schlaft raubt. Nach der Ankunft im Kosovo gab es für die achtköpfige Familie pro Person einmalig 50 Euro für Lebensmittel, von der Gemeinde Gjakova seit Anfang des Jahres drei Lebensmittelpakete.

Vor allem die Kinder leiden

Die Miete wird bislang noch von einem deutschen Rückkehrerprojekt bezahlt. Was passiert, wenn diese Hilfe in zwei Monaten ausläuft, will sich niemand vorstellen und ist doch in jedem Augenblick gegenwärtig: „Dann stehen wir auf der Straße.“ Zwei Mal kam die deutsche Chefin des Rückkehrerprojekts zu Besuch und zuckte auf das flehentliche Bitten nur mit den Schultern. Das Angebot, noch ein paar Einrichtungsgegenstände zu finanzieren, hat Xhevdet Meta ausgeschlagen: „Was soll ich mit einem Schrank, wenn ich in zwei Monaten obdachlos bin?“

Dass Kinder von einer Abschiebung aber noch einmal in besonderem Maße betroffen sind, hat eine neue Unicef-Studie mit dem Titel „Stilles Leid“ herausgefunden. 164 Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis 18 Jahren wurden interviewt. Die meisten sind in Deutschland geboren und aufgewachsen, ihre Muttersprache ist Deutsch und Romani, so dass sie sich in ihrer neuen Heimat noch nicht einmal verständigen können. Die Folge sind Rückzug und Resignation, was in fast der Hälfte der Fälle in eine handfeste Depression mündet, wie Luciano Calestini, Leiter von Unicef Kosovo, die Ergebnisse der Studie zusammenfasst. Ein Fünftel der befragten Kinder und Jugendlichen empfindet sein Leben als nicht mehr lebenswert. Viele leiden unter Angstzuständen oder hegen sogar Selbstmordgedanken.

„Unser Zuhause ist Deutschland“

Ein weiteres erschütterndes Ergebnis einer vorangegangene Unicef-Studie: Drei von vier Kindern gehen im Kosovo nicht mehr zur Schule. Die Gründe sind vielfältig – fehlende Dokumente wie Geburtsurkunden oder Zeugnisse, die im Trubel der nächtlichen Abschiebungen vergessen worden sind, die offene Ablehnung durch die Einheimischen, die den aus Deutschland kommenden Roma entgegenschlägt. Oder auch die Verweigerung der Kinder selbst, die in ihren Gedanken noch immer in Deutschland leben.

„Sie kommen an in einem für sie völlig fremden Land“, hat Unicef-Leiter Calestini Verständnis. Herausgerissen aus ihren Leben in deutschen Kleinstädten, landen sie von einem Tag auf den anderen in den Roma-Siedlungen des Kosovo und fühlen sich auch Jahre nach ihrer Abschiebung noch immer wie im Exil. „Unser Zuhause ist Deutschland“, sagen auch die Kinder der Familie Meta immer wieder. Keiner von ihnen hat auch nur eine Sekunde daran gedacht, im Kosovo in die Schule zu gehen.

„Lieber Rama, wir vermissen Dich“ steht in Briefen aus Deutschland

Dass sie dagegen in Otterndorf gut integriert warten, davon zeugen die Briefen von Lehrern, Nachbarn und ihren Freundinnen, die die Familie nach ihrer Abschiebung erhalten hat. „Lieber Rama, wir vermissen Dich und Dein Lachen“, heißt es in einem. In einem großen Umschlag sind sie alle sorgfältig aufbewahrt.

Auch Xhevahire, mit neun Jahren die Jüngste der Familie, hat eigentlich immer noch nicht verstanden, was ihr widerfahren ist. Manchmal holt sie ihre Stifte und einen Block aus ihrer Schultasche und beginnt gedankenverloren zu malen. Dann ist es für kurze Zeit wieder ein bisschen so wie zu Hause, und sie kann sich vorstellen, dass morgen wieder ein neuer Schultag beginnt. Sie denkt oft an die Schule, ihre Lehrerin, an ihre Freundinnen. „Übermorgen hätte ich Schwimmen“, sagt sie leise.


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