Kirchenkritiker auf der Flucht
Die Mitglieder der Punkband „Pussy Riot“ stehen derzeit in Moskau vor Gericht, weil sie mit ihrem Auftritt eine orthodoxe Kathedrale geschändet haben sollen. Derweil häufen sich Berichte über russische Oppositionelle, die sich in Nachbarstaaten absetzen: Nun wurde bekannt, dass eine Journalistin und ein Aktivist in der Ukraine Asyl beantragten. Und auch knapp 1.000 km nördlich von Moskau, unweit der finnischen Grenze, musste ein junger Mann erfahren, dass Kirchenkritik im heutigen Russland gefährlich sein kann.
Alles begann mit einigen Graffitis an der Mauer eines orthodoxen Zentrums in Petrosawodsk, der Hauptstadt der Republik Karelien im Nordwesten Russlands. „Pay and pray“ („Bezahle und bete“) war dort zu lesen, aber auch „Christ is dead“ („Christus ist tot“). Der lokale Menschenrechtsaktivist Maxim Jefimow griff das Thema in einem kurzen Eintrag auf der Webseite seiner Organisation „Jugendliche Rechtsschutzgruppe“ auf. Unter der Überschrift „Karelien hat die Popen satt“ prangerte er die Zusammenarbeit zwischen der Regierungspartei „Einiges Russland“ sowie der Russischen Orthodoxen Kirche an. Für diesen Blogeintrag soll Jefimow sich in Russland vor Gericht verantworten, gleichzeitig betreibt die Staatsanwaltschaft seine Einweisung in die Psychiatrie. Jefimow setzte sich ab und beantragte kürzlich Asyl in Estland, Russland hat ihn international zur Fahndung ausgeschrieben.
Deftige Sprache wurde Blogger zum Verhängnis
Wer mit Jefimow spricht, bekommt den Eindruck einer intelligenten, wachen Persönlichkeit. Der studierte Russist drückt sich stets gewählt und höflich aus. In seinen Texten zeigt er dagegen einen Hang zu deftigerer Sprache. Das wurde ihm auch in seinem Blogeintrag zum Verhängnis. Denn Korruptionsvorwürfe gegen Regierungspartei und Kirche sind auch in Russland nicht strafbar, der Ausdruck „orthodoxer Abschaum“, den Jefimow verwendete, möglicherweise schon. Angeklagt ist er aufgrund von Paragraph 282 des russischen Strafgesetzbuches, der „Erregung von Hass oder Feindseligkeit“ aufgrund von Merkmalen wie Rasse, Nationalität, Sprache oder Religion mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe bedroht.
„Sie haben nach einem Grund gesucht, mich anklagen zu können“, ist sich Jefimow sicher. Während er früher regelmäßig in lokalen Zeitungen publiziert habe, stehe er in Petrosawodsk bereits seit einigen Jahren auf einer schwarzen Liste und könne keine gedruckten Artikel mehr veröffentlichen. Vielen in seiner Heimatstadt sei er mit seiner Tätigkeit schon lange ein Dorn im Auge gewesen: 1999 setzte Jefimow sein Recht auf Kriegsdienstverweigerung vor Gericht durch – nach eigenen Angaben als erster überhaupt in Karelien. Er führte Prozesse gegen die Verwendung von Staatsgeldern für kirchliche Zwecke. Engagiert war er außerdem im Kampf gegen Rassismus, Korruption oder die Diskriminierung von Homosexuellen.
Vier Psychologen bescheinigen Jefimow geistige Gesundheit
In der Summe macht dieses Engagement scheinbar verdächtig – zumindest für den Staatsanwalt, der eine psychiatrische Expertise wegen „abweichendem Verhalten“ anforderte. Jefimow unterzog sich einer Untersuchung durch vier Psychiater und einen Psychologen, die ihm bescheinigten, geistig gesund zu sein, für alle Fälle aber eine stationäre Untersuchung empfahlen. Aufgrund dieser Empfehlung beantragte die Staatsanwaltschaft eine Einweisung in die Psychiatrie. Das Gericht gab dem Antrag statt, während der zehntägigen Einspruchsfrist floh Jefimow aus Russland.
Derzeit wartet er im Norden Estlands auf die Bearbeitung seines Asylantrags. Von dort aus führt er weiter seinen Blog, in dem er auch in gewohnt scharfen Worten Stellung zum Prozess gegen Pussy Riot nimmt: indem er die jungen Frauen für ihren friedlichen Protest ihrer Freiheit beraube, demonstriere der Machtapparat seine „vollständige intellektuelle Armut und moralische Missbildung.“