Polen

Pilger-Kult um Schwarze Madonna

Am zweiten und dritten Tag ist es am schlimmsten. Die Beine streiken, Hüften und Füße schmerzen. Erst dann merkt man, wie hart der Asphalt ist, der Rucksack fühlt sich wie Blei an. Es geht vorbei an Feldern, Dörfern und Wiesen. Die Sonne prallt vom Himmel, der Schweiß rinnt übers Gesicht, das Atmen fällt schwer. Dann wieder regnet es in Strömen, der Körper zittert vor Kälte.

Über drei Millionen Menschen pilgern jährlich zum Kloster Jasna Gora (Heller Berg) im polnischen Wallfahrtsort Tschenstochau, um das Bild der Schwarzen Madonna zu sehen. Die jahrhundertealte Ikone mit dem goldenen Heilgenschein ist die heiligste Reliquie des Landes.

Rund 100.000 Pilger kommen zu Fuß. Viele von ihnen sind Tage und Wochen unterwegs: Von Warschau sind es zu Fuß etwa neun Tage, von der Halbinsel Hel im Norden des Landes sogar bis zu drei Wochen nach Tschenstochau im Süden des Landes. „Diejenigen, die aus Kattowitz kommen, dürften sich gar nicht Pilger nennen“, sagt ein Mann aus Warschau augenzwinkernd. Denn von der oberschlesischen Metropole sind es nur 70 Kilometer.

Im August kommen die meisten Pilger in den schlesischen Wallfahrtsort. Zuerst am 15. August an Maria Himmelfahrt, dann am 26. August, dem Tag der Schwarzen Madonna von Tschenstochau. Am 8. September, an Marias Geburtstag, versammeln sich bis zu 200.000 Menschen auf der Wiese vor dem Kloster zum Gottesdienst.

Die Pilger aus Warschau wandern in Gruppen von 200 Leuten. Mehrere Gruppen bilden eine Legion, mehrere Legionen eine Pilgerfahrt. Die Legionen wählen unterschiedliche Strecken, ansonsten würden sie den Verkehr lahm legen.

Während einer kurzen Marschpause rollt Jolanta eine Matte aus. Sie pilgert schon zum neunzehnten Mal nach Tschenstochau. Ihre zehnjährige Tochter kommt zum dritten Mal mit. Jedes Mal macht sich Jolanta mit einer anderen Fürbitte auf den Weg. „Ich bete für die Kinder, die Familie und Gesundheit.“ In diesem Jahr will sie sich für den Schulabschluss ihres Sohnes bedanken. „Ein gutes Kind, aber nicht besonders begabt. Und trotzdem hat er es geschafft! Ist das nicht ein kleines Wunder?“


Die Schwarze Madonna von Tschenstochau

Tschenstochau, das in der Region Kleinpolen liegt, ist bekannt für das Paulinerkloster auf Jasna Gora, „dem hellen Berg“. Die Stadt wurde 1382 von Wladyslaw Opolczyk gegründet, der aus der heutigen Ukraine die Ikone der Madonna mitbrachte. Im Laufe der Zeit wurden die Farben auf dem Holz dunkel, deshalb der Name „Schwarze Madonna“. Das Kloster wurde zum Sybol für Heroismus, als die Mönche sich 1655 gegen den Ansturm der Schweden verteidigten. Ein Jahr danach erklärte König Jan Kazimierz die Maria zur „Königin Polens“. Tschenstochau ist seit dem Mittelalter Ziel von Pilgerfahrten. Die älteste reguläre Pilgerfahrt von der polnischen Hauptstadt Warschau aus fand im Jahr 1711 statt. Jedes Jahr wird Tschenstochau von über drei Millionen Gästen aus aller Welt besucht. Der polnische Papst Johannes Paul II. besuchte Tschenstochau gleich mehrmals während seines Pontifikates. Sein Nachfolger Benedikt XVI kam 2006.


Bis zu 40 Kilometer täglich marschieren die Pilger, immer im selben Rhythmus: zwei bis drei Stunden Marsch, 15 Minuten Pause. Auf dem Weg singen und beten sie. An den Straßenrändern haben die Einheimischen Tische aufgestellt: Becher mit Getränken, Platten mit Kuchen, Äpfel.

Im Dorf Blizne ist es Danuta, die ständig neue Vorräte für die Pilger anschleppt. Ihre Cousine im Nachbardorf kocht das Mittagessen. Bis zu 5.000 Pilger machen dort Pause, und keiner geht hungrig weiter. Fürs Essenkochen bekommen die Helfer ein Dankeschön und das Gefühl, zur Gemeinschaft zu gehören. „Schwester“ und „Bruder“ nennen die Pilger einander. Das Zugehörigkeitsgefühl entschädigt auch für die Strapazen. „Man muss es selbst erleben“, sagt Jolanta, und ihre Augen werden feucht. Eine junge Frau stimmt ihr zu. „Es ist so, als lade man seinen Akku auf. Für ein paar Monate reicht es. Dann fängt man wieder an, sich nach diesem Gefühl zu sehnen.“

Agata ist zum zehnten Mal dabei. Ein Jahr setzte die künftige Feuerwehrfrau aus. Ihr Leben fühlte sich an, als würde es auseinanderfallen, sagt sie. Dann pilgerte sie weiter, „und alles war wieder in Ordnung“, sagt sie mit Triumph in der Stimme. „Maria, die Königin Polens, ich bin immer bei Dir, ich denke an Dich …“, singt sie zum Klang von Gitarre und Tambur.

Während des Kommunismus drückten die Pilger auf ihren Fahrten nicht zuletzt auch patriotische Gefühle aus. In den 1980er Jahren, als die Werftarbeiter in Danzig ihre Streikaktionen durchführten, marschierten 400.000 Menschen zum heiligen Ort, stets begleitet von Sicherheitskräften. Das Regime schaltete den Strom in den Dörfern am Weg ab, sperrte die Wege. Die Pilger kamen trotzdem ans Ziel. Heute ist der Durchschnittspilger unter 40 Jahre alt und Akademiker, nicht tiefgläubig, aber auf der Suche nach einem eigenen Weg zu Gott. In Tschenstochau treffen sich Politiker, die Behörden organisieren Fahrten dorthin.

Immer weniger Katholiken pilgern allerdings zu Fuß nach Tschenstochau, was wohl daran liegt, dass viele Polen einfach keine Zeit mehr für wochenlange Pilgerreisen haben. Das Bedürfnis nach Pilgerfahrten mit Bus und Bahn ist aber weiter ungebrochen, und das, obwohl die Kirchen über immer weniger Besucher bei den sonntäglichen Gottesdiensten klagen. So kommen alleine aus Warschau 20.000 Pilger, so viele wie aus keiner anderen Großstadt. Dem Marienkult kann die schwindende Religiosität nichts anhaben, bestätigt auch der Soziologe Stefan Czarnowski: „Die Madonna ist für meisten Polen eine Mutter, fürsorglich, verständnisvoll und verzeihend. Eine Heilige, die sich für das ganz alltägliche Leben der Gläubigen interessiert.“ Zu Maria gingen die Gläubigen selbst mit jenen Anliegen, mit denen sie sich nicht zu Gott trauten.

Agata, die künftige Feuerwehrfrau, holt das Zelt aus dem Transportwagen. Jolanta und ihre Tochter schlafen auf ihren Rucksäcken in einer Scheune. Am nächsten Tag geht es um vier Uhr früh wieder los. Nur noch zwölf Kilometer, und die Pilger sind in Tschenstochau. „Zu Hause“, sagt eine Frau. „Mit seinem Gebet ist man bei der Mutter zu Hause.“


Weitere Artikel