Rumänien

Die Stunde der Wahrheit

Rumänien ist das Sorgenkind Europas. Die Regierung setzt sich über den Rechtstaat hinweg, sie missachtet das Verfassungsgericht und das Parlament. Das Land steht unter verschärfter Beobachtung der Europäischen Union.

Doch was aus westlicher Perspektive alarmierend wirkt, ist für Rumänien nicht ungewöhnlich und Ergebnis jahrhundertelang gewachsener gesellschaftlicher und politischer Strukturen. Wer sie kennt, weiß, was in Rumänien auf dem Spiel steht und warum Politik und Gesellschaft unfähig sind, die Probleme sachlich zu diskutieren.

Der moderne rumänische Staat entstand 1859 nach französischem Vorbild, 1866 bekam er eine dem belgischen Grundgesetz nachempfundene Verfassung. Die Macht wurde auf Empfehlung Bismarcks einer deutschen Herrscherdynastie übertragen. Bis 1916 forcierten Staatsform, Verfassung und Verwaltung die Modernisierung. Doch die Demokratie wuchs unorganisch, der Parlamentarismus blieb wegen des Zensuswahlrechts eingeschränkt.

Nur ein Jahrzehnt, nämlich das nach dem Ersten Weltkrieg, erfreute sich Rumänien überhaupt einer funktionierenden Demokratie und eines Rechtsstaats. Gebiet und Bevölkerung hatten sich nach dem Untergang Österreich-Ungarns zudem verdoppelt. Doch schon das nächste Jahrzehnt stand unter dem Vorzeichen einer Wirtschafts- und Verfassungskrise sowie der Machtergreifung durch die Rechtsextreme.

Im Kommunismus ersetzten die proletarischen die gesellschaftlichen Eliten. Die Kluft zwischen Politik und Gesellschaft blieb. Es lag auf der Hand, dass der Staat auch im Postkommunismus zur Interessensvertretung von Persönlichkeiten und Gruppierungen wurde, die von wirtschaftlichen Interessen und vom Wahn eigener symbolischer Dominanz getrieben waren.


Eine sehr dünne Schicht sehr reicher und zynischer Individuen

Nach 1989 verlor Rumänien mit dem Untergang der Sowjetunion zudem seine Absatzmärkte. Die Industrie starb ab, viele Arbeiter gingen zurück in ihre Dörfer, wo sie seither ihr bescheidenes Ackerland bearbeiten und Subsistenzwirtschaft betreiben. Bereits Mitte der 1990-er Jahre war die Landbevölkerung und damit die Hälfte der Rumänen verarmt und isoliert. Die wirtschaftlichen Probleme sind bis heute nicht gelöst: Importe sind wichtiger als Exporte, der Konsum wichtiger als die Produktion. Rechtsbruch bleibt bis heute oft folgenlos, die Altkommunisten in der Bürokratie hemmen weiterhin Privatinitiativen und Auslandsinvestitionen. Weite Teile der Bevölkerung lehnen kapitalistische Transformation und Wettbewerb ab. Die Betriebe haben Schulden angehäuft. Westliche Firmen kommen ins Land und nutzen billige Arbeitskräfte, ohne sich an Regeln halten zu müssen.

Die korrupten und an schneller Bereicherung interessierten Eliten bilden eine sehr dünne Schicht sehr reicher, aber zynischer Individuen. Diese verhindern die Entstehung und den Fortbestand einer Mittelschicht mit gemäßigtem Wohlstand. Die in die Armut gedrängte Mehrheit wird zunehmend frustrierter. Wer sich ein besseres Leben wünscht, wandert in den Westen aus. Wer zu Hause bleibt, versucht, bei der politischen Klientel eines lokalen Machthabers oder einer politischen Kraft unterzukommen. Deshalb wird der Beamtenapparat nach jeder Wahl völlig umgekrempelt. Jeder Gewinner zieht mit seinen Begünstigten ein, die Verwaltung bläht sich immer weiter auf.


Jeder Politiker hält es für legitim, die staatlichen Grundsätze zu ändern

Die 1990 nach dem Sturz des Kommunismus verabschiedete und später nur vage novellierte Verfassung regelte die Gewaltenteilung nicht klar genug. Das System schwankt seither zwischen einer präsidialen und einer parlamentarischen Demokratie, der rumänische Präsident hat sowohl exekutive als auch legislative Befugnisse. Dies gibt ihm die Möglichkeit, als „Erster Mann der Republik“ über das Parlament hinweg Initiativen zu ergreifen. Oft schlüpft er sogar in die Rolle des Ministerpräsidenten.

Konflikte zwischen Präsident und Premierminister gab es deshalb im postkommunistischen Rumänien immer wieder. So hatte Emil Constantinescu in den späten 1990-er Jahren keine gesetzliche Handhabe, um Premierminister Radui Vasile zum Rücktritt zu bewegen, obwohl dieser keine Unterstützung mehr hatte. Erst jüngst entbrannte zwischen Traian Basescu und Ministerpräsident Victor Ponta ein unlösbarer Konflikt um die Frage, wer von den beiden das Land beim EU-Gipfel Ende Juni dieses Jahres vertreten durfte. Ponta nahm teil, obwohl das Verfassungsgericht das Recht Präsident Basescu zugesprochen hatte.

Jeder neugewählte Führungspolitiker hält es für legitim, nicht nur die Liste der politischen Würdenträger, sondern auch die Funktionsweise der Institutionen und sogar die staatlichen Grundsätze so zu ändern, dass diese der eigenen Person und nicht der Gesellschaft nützen. Vor diesem Hintergrund sehen viele Rumänen auch den rigiden Sparkurs von Traian Basescu mit Misstrauen. Er hatte Reformen versrochen, setzte aber wegen der desolaten Haushaltslage und um eine Pleite des Landes zu verhindern den Rotstift an. Er ließ Schulen und Krankenhäuser schließen und Etats und Renten kürzen.

Das Drei-Parteien-Bündnis „Sozialliberale Union“ (USL) von Victor Ponta will einerseits den Sparkurs abmildern, und gleichzeitig die Interessen der eigenen Klientel bedienen. Dies hat dazu geführt, dass Ponta, seit April im Amt, in den vergangenen Monaten so schnell wie möglich den Status hochrangiger Staatsvertreter als auch den Rechtsrahmen wichtiger Institutionen – des Ombudsmanns, des Verfassungsgerichts und des Amtsblatts – geändert hat.


Parlamentsmitglieder laufen zur gegnerischen Partei über

Die Einmischungen des Präsidenten oder des Premierministers in die Belange der Justiz sind älterer Natur, obwohl sie erst jetzt, nach der Ernennung von Victor Ponta zum Regierungschef, international sichtbar werden. Ähnliche Anschuldigungen gab es schon, als Präsident Ion Iliescu 1990 weder die Nationalliberale Partei noch die Christdemokratische Nationale Bauernpartei zu einem provisorischen politischen Entscheidungsgremium zulassen wollte, oder als seine eigene Regierung mit extremistischen Parteien koalierte. Aber auch jüngst, als Traian Basescu und Ministerpräsident Emil Boc das Land per Eilverordnungen führten sowie Gesetze ohne das Parlament durchboxten.

Es sind immer die gleichen Parteien, die Bündnisse eingehen und sie wieder auflösen – in der zweiten Hälfte der 1990-er Jahre war es die Demokratische Konvention Rumäniens, später die D.A.-Allianz (zwischen Liberalen und Demokraten), gegenwärtig die Sozialliberale Union. Diese Bündnisse wechseln aufgrund demokratischer Wahlen. Doch die Wahlergebnisse werden schon deswegen irrelevant, weil nach den Wahlen regelmäßig Parlamentsmitglieder die Partei wechseln, weil sie vorher persönliche Vorteile ausgehandelt haben. Dieses rechtsgültige Verfahren war beispielsweise schuld daran, dass im Frühjahr eine Reihe Parlamentarier zur jetzt regierenden USL überlief und ihr damit die Mehrheit sicherte. In der Folge konnten die bis dahin regierenden Liberaldemokraten gestürzt werden.

Wegen ihrer Schwäche und ihrer kompetenzfremden Personalpolitik sind die politischen Eliten außerstande, die Wirtschaft anzukurbeln und die akuten sozialen Probleme zu lösen, mit denen die Mehrheit der Rumänen kämpft. Sie stehen im Dienst von Interessengruppen mit klar abgesteckten materiellen und führungspolitischen Zielen und paktieren mit mafiaähnlichen Kreisen –
wenn sie diese nicht selbst bilden. Auch stehen sie im Wettbewerb um die Gunst der Geheimdienste. Der Ministerpräsident der letzten Basescu-treuen Regierung, Mihai Ungureanu, war der Chef des Auslandsgeheimdienstes SIE. Inzwischen wurde nachgewiesen, dass ein weiterer Nachrichtendienst (S.T.S.) ihn auch während seiner Amtszeit mit Informationen versorgte.


Die politische Krise wird sich noch verschärfen

Insofern kann der Konflikt zwischen Parlament und Präsident, der in den vergangenen Wochen zur zweiten Suspendierung von Traian Basescu führte (eine erste erfolgte im Jahr 2007), mehrfach ausgelegt werden. Erstens als Auseinandersetzung zwischen Legislative und Exekutive um die endgültige Entscheidung in der verfassungsmäßig ungenügend geklärten Machtfrage im Staat. Zweitens als Kampf zwischen zwei Interessensgruppen im Dienst von Magnaten, die über Medienkonzerne und riesige Vermögen verfügen. Drittens als persönliche Fehde unter gewesenen Partnern, da Liberale und Bürgerliche in Basescus erster Amtszeit die Macht teilten und Basescus Partei andererseits sich ursprünglich von der sozialdemokratischen PSD-Partei abgespalten hatte, die sich größtenteils aus der kommunistischen Elite rekrutiert hatte.

Unter diesen Umständen ist zu erwarten, dass in absehbarer Zukunft Armut, politische Krise und Verdrossenheit der Bevölkerung zunehmen werden. Denn die aktuellen Spannungen betreffen nicht nur die Wahrung der Verfassung und die korrekte Funktionswiese der Institutionen, sondern das ureigene Selbstverständnis der politischen Eliten.


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