Eine Schule für den Frieden
Kurz vor neun Uhr, die große Pause hat begonnen. Nach langem Regen ist nun endlich bestes Fußball-Wetter. Schnell formieren sich auf dem Schulhof zwei Teams. An Fans mangelt es nicht: Die Mädchen stehen am Rand, auch der Geschichtslehrer Radovan Toprek feuert die Jungs an: „Erkennen Sie etwa, wer hier Serbe, Kroate oder Bosniake ist? Ich nicht. Die Kinder sind alle gleich. Sie spielen alle gleich gut“, sagt er.
Srdjan und Amir sind auch dabei. Sie haben vieles gemeinsam – beide gehen in die 5. Klasse, mögen Mathematik nicht, spielen im selben Team, und wollen so gut werden wie Messi – ihr Lieblingsfußballer. Der Unterschied zwischen Srdjan und Amir wird erst nach dem Spiel deutlich: Der erste besucht mit den anderen Serben den orthodoxen Religionsunterricht, der zweite ist Bosniake und geht in die Islamstunde.
Dass wie in Kotorsko im Norden des Landes in den Pausen auf dem Schulhof die Kinder aller Ethnien zusammen Fußball spielen, ist in Bosnien-Herzegowina keine Selbstverständlichkeit. Das Schulsystem wurde nach dem Krieg zum Spielball der Politik. Nach dem Dayton Abkommen 1995 entstand ein kompliziertes Staatsgebilde, bestehend aus zwei Entitäten – der Republika Srpska und der Föderation Bosnien-Herzegowina. Diese teilen sich die drei konstituierenden Ethnien – Bosniaken, Kroaten und Serben – und die Minderheiten im Land. Hinzu kommen noch ein Distrikt und zehn Kantone, jeder mit eigenem Bildungsminister und Schulprogramm.
Äpfel mit Birnen könne man nicht mischen, sagte vor etwa fünf Jahren die Bildungsministerin des Zentralbosnischen Kantons – und meinte damit die unterschiedlichen Ethnien im Land. „Zwei Schulen unter einem Dach“ so heißt entsprechend die offizielle Politik in Regionen, die von mehreren Ethnien bewohnt werden, 52 solcher Schulen gibt es in der Föderation. Die Klassenzimmer sind nach ethnischer Herkunft aufgeteilt, in Schulhöfen trennen teilweise Zäune und Stacheldraht die einzelnen Eingänge voneinander ab. In Bosnien und Herzegowina, wo mehrheitlich Katholiken und Muslime (Bosniaken) leben, wurden solche Schulen zum Ausdruck einer gespaltenen Gesellschaft.
Die Nichtregierungsorganisation „Vasa Prava“ errang unlängst einen Teilerfolg im Kampf gegen die ethnische Trennung im Klassenzimmer. Die Organisation hatte gegen das System der „Zwei Schulen unter einem Dach“ geklagt und Recht bekommen. Derzeit bereitet „Vasa Prava“ jedoch eine zweite Klage vor – weil sie davon ausgehen muss, dass der richterlichen Anordnung bis Anfang September nicht entsprochen wird.
Kotorsko
liegt in der Verwaltung der Republika Srpska. Hier sind die meisten
Schulen zwar gemischt, doch der Sprach- und Geschichtsunterricht
orientiert sich oft an der serbischen Ethnie.
Es ist ein
verhältnismäßig großes Dorf. 2.000 Menschen leben hier: 1.500 Bosniaken
und 500 Serben. Auf der Hauptstraße, die zur Schule führt, reiht sich
Kiosk an Kiosk. Besonders stolz macht die Menschen die kleine Poststelle
und die Ambulanz. Eine kleine Fabrik, die vor kurzem aufgemacht hat und
Bekleidung für namhafte ausländische Firmen schneidert, sichert die
Existenz von etwa 30 Familien. Die anderen verbringen ihren Alltag in
den Cafés und auf den provisorisch aufgestellten Banken vor den Kiosken.
Fast jeder Zweite in Bosnien-Herzegowina ist arbeitslos.
Eine Autobahn durchtrennt den serbisch-orthodoxen vom muslimischen Teil des Dorfes. Fünftklässlerin Alexandra lebt in Trnovo 1, dem serbisch-orthodoxen Teil, und Sechstklässler Mehmedalija im muslimischen Teil des Dorfes. „Wir sind wir und die sind die“, sagt Fuad, Bosniak und Vater zweier Kinder. „Der Krieg hat uns in diese zwei Kategorien geteilt.”
Deshalb ist es bemerkenswert, dass die Kinder in Kotorsko alle auf eine gemeinsame Schule gehen. Es ist ein relativ modernes, 2003 renoviertes Gebäude. 180 Schüler besuchen den Unterricht, 60 davon sind Serben. An bunten Klassenzimmerwänden hängen Bilder von Weihnachten und von Bajram, dem islamischen Opferfest.
Einmal in der Woche kommen Lamija Mehmedic, Lehrerin für Islamkunde, und der orthodoxe Priester Radenko Todorovic in die Schule. „Ich erkläre den Kindern auch, was der Islam ist“, sagt Todorovic. Es soll sogar serbische Schüler geben, die neugierig sind und gerne mal in den Islamunterricht schnuppern würden.
„Vor allem wir Religionslehrer müssen ein Vorbild für die Kinder sein“, meint Mehmedic. „Wenn wir wollen, können wir sehr schnell Spannungen schaffen. Aber genau das versuchen wir zu vermeiden. Wir wollen doch alle hier leben“, fügt die Islamlehrerin hinzu. „Deswegen feiern wir alle Feiertage – ob Bajram, Weihnachten oder Ostern.“ Die Kinder sollen die Unterschiede kennenlernen und diese als normal annehmen.
Eine weitere Besonderheit der Schule in Kotorsko ist, dass die Kinder neben Serbisch auch in Bosnisch unterrichtet werden. Die bosniakisch-muslimischen Eltern bilden die überwiegende Mehrheit im Dorf, sie hatten die Einführung der bosnischen Sprache gefordert. Dem ist die Schule nachgekommen: Ein Zeichen der Toleranz, längst nicht alle Schulen in der Republika Srpska erlauben Bosnisch als Wahlfach. Vermutlich ist die kleine Schule in Kotorsko die einzige Oberschule in der gesamte Republika, die Bosnisch bis zur 12. Klasse anbietet. Genau weiß das aber keiner. Das Bildungsministerium führt keine Statistiken darüber, wie viele Schulen Bosnisch als Wahlfach anbieten – um Diskussionen zu vermeiden.
„Wir verstehen uns einfach alle gut. Was ist denn daran so ungewöhnlich? Wir unternehmen Dinge zusammen, keiner beleidigt den anderen oder macht sich lustig über ihn“, sagt die Fünftklässlerin Alexandra. „Wieso sollten wir uns trennen? Wir sind doch alle gleich, wir sind doch alle Menschen“, ergänzt Mehmedalija, der im Gegensatz zu Alexandra aus dem muslimischen Teil des Dorfes kommt.
Für die Kinder scheint längst Normalität zu sein, womit sich die Eltern noch schwer tun. Denn so sehr die Eltern den Bosnisch-Unterricht begrüßen, umso gleichgültiger zeigen sich ihre Kinder. Immerhin müssen sie nun einmal in der Woche acht Unterrichtsstunden die Bank drücken, während die anderen schon nach der sechsten Stunde nach Hause gehen dürfen. „Die Schüler haben auf Bosnisch eigentlich keine Lust. Es ist ja fast die gleiche Sprache, die wir ihnen beibringen“, sagt eine Lehrerin für bosnische Literatur. Bosnisch, Serbisch und Kroatisch gleichen sich so sehr, dass man sich untereinander mühelos versteht. Es ist eher eine politische Frage, ob es sich um eigenständige Sprachen oder um Dialekte handelt.
Der Bosniake Fuad arbeitet als Schatzmeister für die Bürgervereinigung von Kotorsko, die sich durch Spenden der bosnischen Diaspora finanziert. Das Büro befindet sich direkt neben der Schule. Es ist ein kleiner verrauchter Raum, in dem wenig Ordnung herrscht. Nur die Skizze für den geplanten Spielplatz für die Kinder aller Ethnien im Dorf wird sorgfältig in einer Mappe aufbewahrt: „Kinder wollen spielen, sie denken nicht über die Politik nach“, sagt Fuad. Und fügt hinzu: „Vielleicht können sie uns Eltern in dieser Hinsicht noch etwas beibringen.“
Sechstklässler Mehmedalija aus Kotorsko jedenfalls versteht den Argwohn der Erwachsenen nicht. Er argumentiert ganz pragmatisch: „Einmal haben wir zusammen Kirschen gestohlen. Ich war unten und habe aufgepasst, dass uns keiner erwischt. Drei waren oben auf dem Baum, und so hatten wir am Ende fast fünf Kilo gepflückt“, Mehmedalija grinst: „Das schafft man nur, wenn man zusammenhält, oder?“