Zittern um ESM-Urteil
Mit Belgien, Zypern, Spanien, Frankreich, Griechenland, Portugal, Finnland, Slowenien und der Slowakei haben neun von 17 Euro-Ländern den Vertrag über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) bereits ratifiziert, in weiteren Staaten steht die Unterzeichnung unmittelbar bevor. In Deutschland und Österreich sind noch nicht alle verfassungsmäßigen Bedenken ausgeräumt. Größter Nachzügler könnte aber ausgerechnet das kleine Estland sein, das sich in den vergangenen Jahren den Ruf eines EU-Musterstaates erworben hat.
Verantwortlich für die Verzögerung ist Indrek Teder. Der 54-jährige Jurist ist Estlands Rechtskanzler, eine Art unabhängiger Ombudsmann, gewählt für eine Amtszeit von sieben Jahren. Zu seinen Aufgaben gehört es, Gesetze vor ihrer Ausfertigung auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Im März dieses Jahres bat Teder den estnischen Staatsgerichtshof festzustellen, dass der ESM-Vertrag gegen die Verfassung des Landes verstößt. Teders Ansicht zufolge untergräbt der Vertrag die Budgethoheit des Parlamentes und stellt das Grundprinzip der parlamentarischen Demokratie in Frage.
Das estnische Parlament kann erst nach dem Urteil des Staatsgerichtshofs am kommenden Donnerstag über die Ratifizierung des Vertrages abstimmen. Selbst bei einer positiven Entscheidung wäre Estland somit Nachzügler. Vor einem negativen Urteil des Gerichts mit Sitz im südestnischen Tartu aber fürchten sich Regierungspolitiker wie Finanzminister Jürgen Ligi. Er zeigt sich um das internationale Ansehen seines Landes besorgt: „Europa kommt auch ohne uns zurecht.“ Aber für ein kleines Land wie Estland sei seine Glaubwürdigkeit „seine wichtigste Währung.“ Für Ligi steht viel auf dem Spiel: „Wir wollen respektiert werden. Für uns ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass unsere Interessen berücksichtigt werden.“ Es gebe „keinen Plan B“, versichert Ligi, einzige Option sei der Beitritt zum ESM.
Das sehen in Estland aber nicht alle so. In der Bevölkerung macht sich ein diffuses Gefühl breit, ungerechterweise für die Schulden anderer Staaten wie Griechenland haften zu müssen. Doch auch gegenüber Deutschland wird Kritik laut. Der ehemalige Chefredakteur der angesehenen Tageszeitung „Eesti Päevaleht“, Priit Hobemägi, veröffentlichte kürzlich einen Artikel mit dem Titel „Warum ich Europa nicht mehr vertraue“.
Besonders stößt sich Hobemägi darin an den Äußerungen des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble, der eine Verlagerung weiterer Kompetenzen hin zur EU fordert. Hobemägi sieht hierin einen Versuch Deutschlands, im Zuge der Krise seinen Einfluss auf die EU weiter auszubauen. Es mache unruhig, wenn der deutsche Finanzminister von den kleineren Mitgliedsstaaten das „Marschieren im Takt“ fordere: „Danke, Herr Schäuble, aber diese Erinnerung ist noch zu frisch.“ Hobemägi appelliert daher an den Staatsgerichtshof, am 12. Juli eine Entscheidung zum ESM zu treffen, „die Estland dient, nicht aber den Interessen anderer“.