Die Besten bleiben zu Hause
Marek Przyworski aus Warschau könnte sofort seine Koffer packen und in Deutschland eine hochdotierte Arbeitsstelle annehmen. Der 36-jährige Gentechnologe ist topqualifiziert, einen Teil seiner Ausbildung hat er in den USA absolviert. Selbst ein Angebot der Max-Planck-Gesellschaft in Heidelberg hatte er schon. Stattdessen baut Przyworski gerade ein Eigenheim am Rand von Warschau. „Ich könnte im westlichen Ausland wesentlich mehr verdienen, würde durch den Verlust des familiären Umfelds und des Freundeskreises aber viel an Lebensqualität vermissen“, begründet er seine Entscheidung.
Obwohl die Bürger der osteuropäischen EU-Staaten seit einem Jahr uneingeschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt haben, bleiben vor allem die Qualifizierten lieber zu Hause. Der befürchtete Ansturm von Billig-Konkurrenz aus dem Osten ist ausgeblieben. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit kamen im vergangenen Jahr 63.000 Osteuropäer zum Arbeiten nach Deutschland – über die Hälfte weniger als erwartet. Vor einem Jahr hatte die Agentur noch mit bis zu 140.000 Zuwanderern gerechnet.
Zwei Drittel der
neuen osteuropäischen Arbeitskräfte kommen demnach aus Polen. Unter
ihnen sind jedoch weniger Fachkräfte, als sich die deutsche Wirtschaft
gewünscht hatte. Denn gerade für gut ausgebildete Facharbeiter lohnt es
sich oft nicht mehr, nach Deutschland zu gehen – und die Nachteile der
Auswanderung in Kauf zu nehmen. Anders als viele hochverschuldete
westeuropäische Staaten erlebt Deutschlands östliches Nachbarland einen
Boom. Allein im vergangenen Jahr wuchs die polnische Wirtschaft um mehr
als vier Prozent und liegt damit beim Wachstum weit über
EU-Durchschnitt. Mit dem Aufschwung stiegen auch die Löhne. Für
qualifizierte Arbeitskräfte gibt es in Polen mittlerweile Gehälter, von
denen man gut leben und ein Eigenheim bauen kann.
Zudem sind
viele auswanderungswillige Polen bereits nach Großbritannien und Irland
gegangen. Dort durften sie bereits unmittelbar nach der EU-Erweiterung
im Jahr 2004 ohne Einschränkung arbeiten. Geschätzte 600.000 Polen sind
dort bereits auf Baustellen, in Cafés und Krankenhäusern beschäftigt.
Fast jeder daheimgebliebene Pole kennt aus der Familie oder dem
Freundeskreis deshalb auch die negativen Seiten der Auswanderung wie
zerbrochene Freundschaften oder Ehescheidungen.
Deutschland ist hauptsächlich für Polen interessant, die wenig verdienen oder in ihrer Heimat keine Arbeit finden. Trotz Wirtschaftsboom ist die Arbeitslosenquote in Polen mit über zwölf Prozent um fast die Hälfte höher als in Deutschland. Auf dem Land, dem sogenannten „Polen B“, liegt die Arbeitslosenquote sogar bei bis zu 30 Prozent. „Wenn jemand auswandert, dann sind das Leute mit niedrigeren Qualifikationen, aus kleinen Städten oder Dörfern, die in Polen gar keine oder nur schlecht bezahlte Jobs haben“, prognostizierte Bohdan Wyznikiewicz vom Forschungszentrum für Marktwirtschaft in Warschau bereits im vergangenen Jahr.
Ein aktueller Bericht des Warschauer Instituts für öffentliche Angelegenheiten mit dem Titel „Verschwindende Grenze“ befasst sich mit der Lage der in Deutschland lebenden Polen. Die Autorinnen kommen anhand vieler Interviews zu dem Ergebnis, dass sich Polinnen und Polen heute in Deutschland wesentlich wohler fühlen als noch vor zehn Jahren, da das Verhalten der Deutschen ihnen gegenüber immer freundlicher und respektvoller wird. Verknappung erzeugt Wertschätzung, ein durchaus positiver Effekt der ausgebliebenen Migrantenschwemme aus dem Osten.