Ungarn

Der Tod der Nation

Der Schriftsteller János Háy untersucht das gespaltene Verhältnis der Ungarn zu ihrem Land in einem Gedankenspiel: Stellen wir uns vor, die Nation wäre untergegangen - wie prächtig würde wohl die Trauerfeier werden? Sein Ergebnis: Nach Tausenden Jahren gemeinsamer Geschichte sollten die Ungarn zu ihrer Heimat stehen und sie verbessern.

Welches ungarische Projekt der Gegenwart verdient es, als größtes Versagen in die Geschichte einzugehen? Viele nennen die Metrolinie Nummer 4. Andere wiederum schwören auf die Renovierung des Parlaments, diesem Symbol für den ewigen Kreislauf. In Anbetracht der nicht enden wollenden Fassadenerneuerung des Hohen Hauses glauben einige Budapester mittlerweile im Ernst, dass die Ungarn nicht von Hunor und Magor abstammen, sondern vom Griechen Sisyphos. Doch wer tatsächlich glaubt, dass es die Metro oder das Parlament ist, der liegt falsch. 


Das Projekt, an dem wir am meisten scheitern, ist der Tod unserer Nation. Seit Hunderten von Jahren warten wir vergeblich auf ihn, obwohl wir ihn uns bereits bis ins kleinste Detail ausgemalt haben: Es gibt eine bombastische Beerdigung mit einer Menge Extras, bei der wir als Ungarn, weil ja doch von uns die Rede ist, das Geschehen nicht etwa aus der Grube mitverfolgen, wie jeder Normalsterbliche, sondern aus der königlichen Loge, in der wir unsere Rührung kaum zurückhalten können ob des in Tränen erstickten Mitgefühls der Welt und des unüberschaubaren Meeres an Kränzen. Die Rührung hindert uns freilich nicht daran, gleich nach Maßgabe des Großhandelspreises nachzuzählen, wer wie viel für uns ausgegeben hat.

Putin wäre für die Organisation zuständig. Als Engel des Jüngsten Gerichts lässt er seine KGB-Kontakte spielen, um innerhalb von wenigen Tagen die Vertreter der großen Nationen zusammenzutrommeln, also Briten, Franzosen und Sumerer. Jene Nationen eben, mit denen wir Ungarn uns als ebenbürtig betrachten. Na gut, in den hinteren Reihen können auch noch andere Platz nehmen, die bulgarische Gesandtschaft zum Beispiel, oder unsere finno-ugrischen Verwandten. 



Trotz unserer heroischen Anstrengungen ist dieses größte Projekt der Nation, das alle Bürger beträfe und die Gräben zwischen uns endlich zuschütten würde, aber gescheitert. Vergeblich haben uns die Franzosen 1921 (In diesem Jahr wurde der Friedensvertrag von Trianon geschlossen. Ungarn verlor damals etwa ein Drittel seiner Bevölkerung rund zwei Drittel seines Territoriums; Anm. Red.) unter die Arme gegriffen. Einen Teil des Landes haben sie uns zwar abgeknöpft, doch konnten wir auch mit dem Rest nicht viel anfangen. Wir waren schlicht und einfach nicht imstande, in das Grab der Nationen hineinzuplumpsen.

Im Grunde genommen ist dieses Scheitern der Grund für unser jammervolles Selbstwertgefühl. Wenn es uns gelungen wäre, das Zeitliche zu segnen, wären wir heute eine florierende Nation. Wir würden uns nicht unentwegt Mohács (Nachdem die Ungarn bei der Schlacht von Mohács im Jahr 1526 von den Osmanen geschlagen worden waren, stand ein großer Teil Ungarns mehr als 150 Jahre lang unter türkischer Herrschaft; Anm. Red.) und Világos (Unweit dieser Ortschaft (heute Rumänien) kapitulierte im Jahr 1849 das ungarische Heer vor den übermächtigen Armeen Russlands und Habsburg-Österreichs; der „Freiheitskampf” Ungarns war damit beendet; Anm.Red.) als Bezugspunkte in Erinnerung rufen, oder all jene Ereignisse, bei denen wir zumindest auf Tuchfühlung mit einem erfolgreichen Nationaltod waren.

Nicht einmal die Wende (1989/90) hat das Land in den Abgrund gerissen, obwohl die politische Elite alles unternommen hat, um auf die historischen Herausforderungen die erdenklich schlechtesten Antworten zu geben. (…)



Die Ungarn können vielleicht mit jenem Pubertierenden verglichen werden, der beim Psychologen einen Termin hat. 
„Könntest du etwas über deine Eltern erzählen, zum Beispiel über deinen Vater?“, fragt der Psychologe. 
„Abstoßend, fett, stinkend, und obendrein trinkt er.“
Der Psychologe kommt in Verlegenheit. Wie könnte er in dem Pubertierenden positive Gefühle gegenüber dem Vater wecken? So kann er ihn doch nicht gehen lassen! Es wäre fahrlässig, einen potenziellen Vatermörder in die Welt hinauszulassen! 
„Stell dir vor, es gibt ihn nicht“, sagt der Psychologe. 
„Das wäre super! Ich würde mich mit meiner Mutter viel besser verstehen, es gäbe mehr Platz in der Wohnung, und sein Laptop würde auch mir gehören.“
Der Psychologe kommt wieder in Verlegenheit. Er versucht, dem Gespräch eine Wendung zu geben.
„Wer bezahlt bei Euch die Urlaube?“, fragt er. 
„Na ja, der Papa.“
„Und wer bezahlt die Privatschule?“
„Der Papa.“
„Und wer trägt das Mineralwasser in den dritten Stock hoch?“ 
„Der Papa.“
„Und wie wäre die Stimmung deiner Mama, wenn er nicht mehr da wäre?“
Der Junge denkt nach. Er sieht eine traurige Mutter vor sich, die dem Mann nachweint, den er so sehr hasst. Jetzt erst wird ihm bewusst, wie schlimm ein Leben ohne Vater wäre. Es wäre ein Leben ohne Geld mit einer traurigen, schlechtgelaunten Mutter. 



Wir verhalten uns genauso – gleichsam als tausend Jahre alte Pubertierende. Wir denken so viel Schlechtes über unser Land, dass es unmöglich ist, uns geradeheraus zu fragen, was gut daran ist, dass wir Ungarn sind und eine Heimat haben. Darauf würden wir nämlich schroff mit „Nichts“ antworten. Wir schämen uns ja schon zu Tode, wenn uns am kroatischen Meer ein Landsmann über den Weg läuft; sofort sprechen wir mit unserer Frau Englisch, oder wir schweigen einfach, wenn wir kein Englisch können. Wir sind dermaßen neidisch, dass wir dem „Homeless“ den Erlös aus dem Verkauf der Obdachlosenzeitung nicht gönnen. Und wir sind derart aggressiv, dass wir mit dem Auto sogar die Straßenbahnschienen von der Straße abdrängen wollen.

Gleichwohl müssen wir zu der Einsicht gelangen, dass es gut ist, wenn es dieses Land gibt. Und dass es feige ist zu verleugnen, dass wir dieses Land mitsamt seinen zahllosen Unzulänglichkeiten bewohnen. 

Wir sind allen voran Menschen, und erst danach sind wir Teil spezifischer Menschengruppen. Jede spezifische Menschengruppe hat nur dann Sinn, wenn sie uns hilft, unsere Persönlichkeit zu entfalten. Steht uns unsere Heimat hierin im Weg, liegt der Schluss nahe, die Heimat zu verschmähen.

Produktiver wäre jedoch folgender Gedankengang: Steht uns unsere Heimat in unserer Entfaltung im Weg, schaffen wir uns doch einfach eine bessere Heimat!

Der Text erschien ursprünglich in der ungarischen literarischen Monatszeitschrift 2000. Peter Bognar hat ihn für ostpol übersetzt.


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