Die Totenzähler von Sarajevo
Mirsad Tokaca öffnet auf seinem Laptop eine riesige Datenbank. Schwarz-Weiß-Fotos von Männern und Frauen sind zu sehen, bei manchen daneben ein Bild ihres Grabsteins. Es sind Opfer des Bosnienkrieges 1992-1995. Unter den Fotos stehen alle Details, die über den jeweiligen Toten bekannt sind, und wie und wo er starb. Und auch die Namen der Täter sind zu lesen, soweit man etwas über sie weiß.
„Es geht um harte Fakten über den Krieg, faktenbasierte Wahrheit. Das ist die Hauptaufgabe unseres Forschungs- und Dokumentationszentrums“, erklärt der 58-jährige Tokaca. Etwa 150 Mitarbeiter haben für die Organisation in den vergangenen Jahren Informationen über die Kriegsopfer zusammengetragen. Sie erfassten alle möglichen Quellen: Bescheide von Ärzten, Gerichten oder Friedhöfen. Die Mitarbeiter des Forschungs- und Dokumentationszentrums Sarajevo werteten Massen an alten Zeitungen und Videos aus und führten über 10.000 Interviews mit Zeugen und Angehörigen. „Es war ein sehr gründlicher Prozess, all diese Verluste zu dokumentieren“, sagt Tokaca.
Fast zwei Drittel der Toten waren Bosniaken
Aus der Summe der erfassten Daten hat er die Gesamtzahl der Opfer berechnet, die Bosnien-Herzegowina während des Krieges zu beklagen hatte. Rund 98.000 seien es gewesen, Soldaten und Zivilisten. Fast zwei Drittel der Toten waren seinen Recherchen zufolge Bosniaken, wie sich die meisten Muslime Bosniens heute nennen. Jeder vierte gehörte zur serbischen Bevölkerung Bosniens, jeder zwölfte zur kroatischen. Bei den Zivilisten waren nach Angaben Tokacas sogar 83% der Toten Bosniaken, und das, obwohl deren Bevölkerungsanteil nur ungefähr die Hälfte ausmachte.
Die meisten Menschen starben im Frühjahr und Sommer 1992, als der Bosnien-Krieg gerade erst begonnen hatte. Der letzte Höhepunkt des Schreckens war dann im Juli 1995 das Massaker von Srebrenica. Soldaten der bosnischen Serben hatten nach der Eroberung der muslimischen Enklave tausende ihrer Gefangenen umgebracht. Insgesamt dürfte die Zahl der Toten des Bosnien-Krieges noch etwas höher als bei 98.000 liegen, denn Tokacas Organisation dokumentiert nur die Daten der Opfer, die aus Bosnien stammten. So werden beispielsweise getötete Söldner aus Kroatien oder Serbien nicht erfasst. Die Namen der dokumentierten Kriegsopfer hat das Forschungs- und Dokumentationszentrum Sarajevo im Internet veröffentlicht.
Mirsad Tokaca hat den Krieg in der Hauptstadt Sarajevo miterlebt
Tokaca will so falsche Zahlen widerlegen. Er beklagt, einige Kräfte würden die Zahl der Toten herunterspielen, andere wiederum sie bewusst übertreiben. „Ich wollte die bosnische Gesellschaft vor diesen Absichten bewahren, vor jeder Art von mythischen Erzählungen. Ich wollte die Wahrheit haben, die auf Fakten und Beweisen basiert für jedes einzelne Opfer.“
Mirsad Tokaca ist Bosniake. Er hat den Krieg in der Hauptstadt Sarajevo miterlebt, die dreieinhalb Jahre von der Armee der bosnischen Serben belagert wurde. Aus seiner Sicht handelte es sich eindeutig um eine serbische Aggression, bei der zeitweise auch Kroatien mitmachte. „Bosnien sollte von der Landkarte verschwinden. Sie wollten auf dem Gebiet von Bosnien ein Groß-Serbien und Groß-Kroatien schaffen.“
Die Erkenntnisse des Forschungs- und Dokumentationszentrums Sarajevo sind auch beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gefragt. Mit dem Kriegsverbrechertribunal habe man in der Vergangenheit eng zusammengearbeitet, berichtet Tokaca. Auch wenn die Zahl der bosnischen Kriegstoten mittlerweile weitgehend erfasst ist – Arbeit hat sein Team noch genug. Im Moment entsteht ein Atlas der Kriegsverbrechen. Er lässt sich mit Hilfe von Google Earth im Internet anschauen. Neben Bosniens Städten und Fotos mit Landschaftsaufnahmen markieren Totenköpfe oder Zielscheiben die Orte des Schreckens. Orte, an denen Morde passierten, Frauen vergewaltigt, Gefangene gequält oder Gotteshäuser zerstört wurden. Es ist ein großes Projekt, sagt Tokaca. Nicht einmal die Hälfte des Atlas sei fertig.