Freiheitskampf für Palinka
An diesem Tag herrscht noch Ruhe in der Schnapsbrennerei von Ildiko Acsai. Eben war ein Kunde da, um einige Flaschen Palinka abzuholen, wie der traditionelle ungarische Schnaps heißt. Doch so richtig beginnt die Saison erst Mitte August, berichtet die 36-jährige Brennereibesitzerin. Dann kommen fast stündlich Kunden, um Fässer voller Maische – vergorenem Obst – abzuliefern. Die 36-Jährige brennt innerhalb von sieben Stunden einen klaren Schnaps daraus.
Die Schnapsbrennerei in Alsonemedi, einem kleinen Dorf etwa 25 Kilometer südlich von Budapest, brummt. Besonders gut läuft es seit etwa zwei Jahren, erzählt Ildiko Acsai. Damals erklärte Viktor Orban – nur wenige Monate nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten – das häusliche Schnapsbrennen für legal. Im „Freiheitskampf” um das Recht auf häuslichen Schnaps hätten die Aufständischen einen „vollständigen Sieg” errungen, sagte Orban mit dem ihm eigenen Pathos. Seitdem darf in Ungarn jeder steuerfrei Schnaps brennen – bis zu einer Alkoholmenge von 50 Liter im Jahr. Wenn man das Hochprozentige auf die übliche Konzentration von etwa 40 Prozent verdünnt, kommen schnell 100 Liter Schnaps zusammen.
Schnapsbrennen hat lange Tradition
Doch jetzt zieht Ärger am Horizont auf: Denn laut der Europäischen Kommission verstößt Ungarn gegen europäisches Recht, wenn es die Branntweinsteuer auf Null senkt. Die Mitgliedsstaaten haben sich bereits vor zwanzig Jahren darauf geeinigt, auf alkoholische Getränke eine Mindestabgabe zu erheben. Vor der EU-Osterweiterung gab es deshalb harte Verhandlungen mit den neuen Mitgliedstaaten. Schließlich wurde Ungarn das Recht eingeräumt, bis 2015 nur den halben Steuersatz zu erheben. Wer einen Liter 40-prozentigen Schnaps brennt, müsste dafür also mindestens 1,10 Euro an Steuern zahlen – eigentlich. Denn seit Herbst 2010 zahlen die Ungarn gar nichts mehr.
Die EU-Kommission droht deswegen mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof. Dabei hat Ungarn eigentlich schon genügend Ärger mit Brüssel. In den vergangenen zwei Jahren hat sich die national-konservative Regierung zahlreiche Male mit der Europäischen Union angelegt. Die Themen, um die es dabei ging – das Notenbankgesetz, die Herabsetzung des Rentenalters für Richter oder die Unabhängigkeit der Datenschutzbehörde – erschienen vielen Ungarn allerdings als eher abstrakt. Das ist beim steuerfreien Schnaps anders.
Ob legal oder illegal – das häusliche Schnapsbrennen hat in Ungarn eine lange Tradition. Hochprozentiges wurde trotz aller Verbote schon immer hergestellt – oft in abenteuerlichen, selbstgebastelten Destilliergeräten. Gebrannt wurde in dunklen Nächten auf dem ungarischen Dorf, gebrannt wurde aber auch in den Küchen der städtischen Plattenbauen. Vor allem Schnaps aus Pflaumen oder Aprikosen gilt als „Hungarikum”, als ungarische Besonderheit. Die Bezeichnung „Palinka” hat sich Ungarn sogar als Markenzeichen schützen lassen.
Neuer Schwung für die Schnapsindustrie
Viele Ungarn reagierten deshalb begeistert auf die Legalisierung dieser Tradition: Kleine Brennereien schossen aus dem Boden, viele Privatleute bestellten sich Destilliergeräte. In zahlreichen Blogs und Internetforen diskutieren sie, wie man einen perfekten Palinka kreiert.
Wegen des EU-Verfahrens herrscht Bedauern bei den ungarischen Schnapsbrennern, von Panik ist bislang allerdings nichts zu spüren. „Wie viel Schnaps jemand zu Hause herstellt, lässt sich doch sowieso nicht kontrollieren”, ist Monika Reisz überzeugt. Sie ist Geschäftsführerin einer kleinen Firma, die Destilliergeräte für den häuslichen Gebrauch verkauft. Die Preisspanne für die Geräte reicht von 50.000 bis 500.000 Forint, das entspricht etwa 170 bis 1.700 Euro. Reisz hat ihre Firma gegründet kurz nach der Ankündigung Viktor Orbans, das häusliche Schnapsbrennen zu legalisieren. „Am Anfang sind so viele Bestellungen eingegangen, dass wir mit dem Ausliefern gar nicht nachgekommen sind”, erinnert sich Reisz. Momentan verkauft ihre Firma jährlich mehr als tausend Destilliergeräte im Jahr.
Die Legalisierung habe der ungarischen Schnapskultur einen neuen Schwung verliehen, findet Zsolt Darvalics. Der 46-Jährige ist eigentlich Banker. Vor drei Jahren besuchte er mit Freunden eine kleine Schnapsbrennerei – seitdem ist das Destillieren von Hochprozentigem zu seiner Leidenschaft geworden. Zusammen mit einem technisch beschlagenen Freund hat er ein eigenes Destilliergerät aus Kupfer und Edelstahl gebaut. Damit verarbeitet er jährlich einige Hundert Kilo Pflaumen, Birnen und Aprikosen zu 10 bis 15 Liter feinstem Schnaps mit 43 Prozent Alkoholgehalt. „Es geht uns nicht um die Quantität, sondern um die Qualität”, betont Darvalics. „Wenn ich bei einer Blindverkostung neun Qualitätsschnäpse aus dem Supermarkt und einen Selbstgebrannten auf den Tisch stelle, erkennen meine Freunde diesen, weil er einfach besser schmeckt.”
Neue Steuer bedroht den Boom kaum
Wer seinen Schnaps nicht zu Hause herstellt, sondern in der kleinen Brennerei von Ildiko Acsai brennen lässt, musste in den vergangenen zwei Jahren nur 3,50 Euro je Liter bezahlen. „Das lohnt sich sogar für die, die nur ein paar Obstbäume in ihrem Garten stehen haben oder die Früchte sogar auf dem Markt kaufen müssen”, berichtet die Besitzerin. „In den vergangenen Jahren ist Schnaps mehr oder weniger zum Trendgetränk in Ungarn geworden.”
Dass die mögliche Wiedereinführung der Schnapssteuer dem neuen Boom ein Ende bereiten wird, glaubt deshalb kaum jemand. „Im Laufe der Geschichte war die Alkoholherstellung immer ein Privileg, zuerst der Feudalherren, später des Staates”, erzählt Monika Reisz, deren Firma Destilliergeräte ausliefert. „Trotzdem haben die Leute immer selber gebrannt, und sei es in umgebauten Milchkannen.” Auch Zsolt Darvalics, der Banker und Hobby-Brenner, ist überzeugt: „Das ist etwas, was man den Menschen einfach nicht verbieten kann.”