Die EM-Party ist zu Ende
Besser als erwartet – so lautet das Urteil vieler Ukrainer auf die Frage, ob die EM erfolgreich verlaufen sei. Uneingeschränkt positiv äußern sich aber nur wenige. Meistens sind es junge Leute oder Fußballfans, die sich nur für das Sportereignis selbst interessieren, aber dies nicht als Ausgangpunkt für ein Gespräch über Politik nutzen wollen, wie es die meisten Intellektuellen tun. Alle sind sich aber einig, dass das 2:1 gegen Schweden und der anregende Verlauf der Spiele gegen Frankreich und England, die die Ukraine allerdings verloren hat, zum nationalen Selbstbewusstsein beigetragen haben.
Ich persönlich hatte ähnliche Gefühle, obwohl ich die EM insgesamt eher skeptisch gesehen habe. Meine Freude über unsere beiden Tore gegen Schweden war genauso stark wie meine Enttäuschung nach dem offensichtlichen, aber nicht angerechneten Tor gegen England. Die schönsten Momente gab es natürlich, wenn sich Fans persönlich begegneten – vor allem auf den Fan-Meilen, nicht nur im Stadion.
Die Fanmeile in meiner Heimatstadt Lemberg hat ausländischen Besucher besonders gefallen, weil es dort auch zwischen den Spielen ein breites Programm fürs Publikum gab. Einige Fans haben sich anscheinend so gut amüsiert, dass selbst ein verpasstes Spiel nicht mehr so wichtig war. Ähnlich war es in anderen Städten. „Was für eine schöne Stadt dieses Charkiw doch ist“, meinte ein holländischer Fan. „Wir sind aber nicht in Charkiw, sondern in Kiew“, verbesserte man ihn. „Ach wirklich? Immer noch in Kiew? Ich dachte, ich bin schon in Charkiw, aber egal, es ist trotzdem wunderbar.“
Der Rausch ist jetzt zu Ende. Die Fans fahren nach Hause, und die Ukraine bleibt in ihrer tristen Realität zurück. Schon jetzt spricht man darüber, dass die Betriebskosten für das neue Stadion in Lemberg nur noch für ein Jahr gesichert sind. Wie und ob überhaupt das neue Stadion weiter genutzt werden kann, das will man sich noch überlegen. Ein so riesiges Stadion am Rande der Stadt braucht die Stadt eigentlich gar nicht, im Gegensatz zu vielen nach wie vor fehlenden kleinen Sportschulen, Fußballfeldern und Sportvereinen für Kinder und Erwachsene.
Zum Lemberger Stadion sollte ursprünglich eine neue Straßenbahnlinie führen, die auch nach der EM die Verkehrsprobleme der Stadt lösen sollte. Gebaut wurde sie nie. In anderen Infrastrukturbereichen, wo wir auf Verbesserungen gehofft haben, sieht es ähnlich aus. Selbst die zur EM versprochenen bequemen und günstigen Zug- und Flugverbindungen zwischen der Ukraine und Polen wurden nicht umgesetzt.
Es ist auch nicht gerade erfreulich, sich zu vergegenwärtigen, wie viel Geld bei diesen Infrastrukturprojekten wohl in die Taschen von Beamten und Bauunternehmern gewandert ist. Dazu muss man lediglich die Summen, die geflossen sind, zu den Projekten in Relation setzen. Im Ukrainischen gibt sogar ein spezielles Wort für diese Korruptionsmodelle: „Widkat“ bedeutet, Beamte für ihr „grünes Licht“zu bezahlen. Dieses Geld fehlt dann natürlich bei der Umsetzung und führt zu Qualitätseinbußen. Zurzeit soll „widkat“ bei manchen Bauprojekten bis zu 30 Prozent der Gesamtkosten ausmachen.
Die EM wurde in der Ukraine ständig politisiert. Und das nicht nur wegen der beiden inhaftierten Oppositionellen Julia Timoschenko und Juri Luzenko. Kurz vor Beginn der EM stimmte das ukrainische Parlament ohne viel internationale Beachtung zudem einem umstrittenen Sprachengesetz zu, das Russisch quasi als zweite Landessprache in der Ukraine etablieren soll. In der Realität ist eher Ukrainisch die Sprache, die gesetzlichen Schutz nötig hat. Das Land wurde seit Jahrhunderten russifiziert. Heute herrscht Russisch ohnehin in fast in allen Lebensbereichen. Natürlich gab es Proteste, aber sie wären sicher stärker ausgefallen, hätte das Parlament nicht in einem vom Fußball abgelenkten Land abgestimmt.
So sieht die Gesamtbilanz wenig positiv aus – die EM ist vorbei, jetzt bleiben uns die Schulden, die Bauruinen und die Parlamentswahl im Oktober, die voraussichtlich zu einer weiteren Stärkung der Diktatur in der Ukraine führen werden. Zurück zur Sowjetunion. Leider.