Schatten überm EU-Musterland
Wenn Kadri Kiviste durch die mittelalterlichen Gassen der estnischen Hauptstadt Tallinn streift, überfällt sie ein Gefühl der Nostalgie. „Diese Kirche mag ich besonders“, sagt sie. „Meinem siebenjährigen Sohn habe ich sie auch gezeigt, ihm hat sie ebenfalls gefallen.“
Zehn Jahre lang ist Kadri, Mitte Dreißig, in der Welt herumgekommen, hat in den USA ebenso mehrere Jahre gelebt wie in Tschechien und Schweden. Mit ihrem tschechischen Mann und zwei Kindern kehrte sie vor zwei Jahren in ihre estnische Heimat zurück – und muss nun schon wieder Abschied nehmen. „Meinem Mann ist es zu kalt in Estland, und die Preise sind zu hoch“, erklärt sie.
Das Wetter dürfte die Entscheidung für den Umzug weniger beeinflusst haben als wirtschaftliche Gründe. Diese machte Kadri Anfang Juni in einem vieldiskutierten Beitrag in der estnischen Tageszeitung „Eesti Päevaleht“ öffentlich. Zu diesem Zeitpunkt waren gerade die Ergebnisse der jüngsten Volkszählung bekannt geworden: Die Einwohnerzahl der Baltenrepublik war unter die Marke von 1,3 Millionen gesunken – 1990 waren es noch weit über 1,5 Millionen gewesen. Das entspricht einem Bevölkerungsrückgang von über 17%.
Aus dem Blickwinkel einer zurückgekehrten Emigrantin beschreibt Kadri die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des estnischen Alltags: „Um einen Arbeitsplatz zu finden, benötigte ich für Sohn und Tochter Kindergartenplätze.“ Die Plätze in den staatlichen Kindergärten waren bereits auf Jahre im Voraus vergeben. Ein privater Kindergarten kam aber nicht in Frage: „Ich wollte als Lehrerin in einer Schule arbeiten, das Gehalt in Estland liegt etwas über 500 Euro.“ Die monatlichen Gebühren für zwei Plätze in einem privaten Kindergarten hätten diesen Betrag aber überstiegen, sodass Kadri unterm Strich für ihre Arbeit als Lehrerin hätte zahlen müssen.
Für seine Wirtschaftspolitik erhält Estland eigentlich reichlich Lob. Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise hatte der Staat seine Ausgaben zurückgefahren, Sozialleistungen gestrichen. Nun wächst die Wirtschaft wieder, und statt Schulden zu machen, erzielt Estland Haushaltsüberschüsse. Anhänger einer strengen Sparpolitik sehen in Estland ein positives Gegenbeispiel zum hochverschuldeten Griechenland.
„Auch für mich fühlt es sich nicht richtig an, Schulden zu machen“, erzählt Kadri in einem Tallinner Café. „Das bedeutet schließlich, auf Kosten der Zukunft zu leben.“ Und doch weiß sie, dass die Sparpolitik ihren Preis hat. Neben der Auswanderung zeigt dieser sich in sozialen Problemen: Estland hat die höchste Rate von Drogentoten in der EU (146 Tote auf ein Million Einwohner, EU-Schnitt 21), die höchste Rate von HIV-Infizierten nördlich von Afrika (1,2% der Erwachsenen Bevölkerung). „Gerade jetzt im Frühling werden die Probleme sichtbar“, erklärt Kadri. Sie meint damit die Alkoholiker, die an schönen Sonnentagen bewusstlos in Parks und am Straßenrand liegen. Die Verlierer des estnischen Wirtschaftswunders.
Doch kritische Stimmen hinterfragen auch das Wunder selbst. So wies der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman kürzlich in einem kurzen Blogeintrag darauf hin, dass sich die estnische Wirtschaft zwar nach der Krise tatsächlich erholt habe, das Bruttoinlandsprodukt aber weiterhin unter dem Niveau von 2007 liege. „Besser als gar keine Erholung“, schreibt Krugman, „aber ist das schon ein wirtschaftlicher Triumph?“
Krugman scheint einen wunden Punkt getroffen zu haben. Der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves fühlte sich bemüßigt, sein Land zu verteidigen und attackierte Krugman in einer Serie von Kurzeinträgen beim Internetdienst Twitter – in teilweise höchst unpräsidialer Sprache.
Auch Kadri will über Estland nicht schlecht sprechen. „Tatsächlich ist das Leben seit sowjetischen Zeiten besser geworden. Wichtig ist die Freiheit, und dass Leute sich selbst verwirklichen können.“ Eines Tages möchte sie mit ihrer Familie zurückkommen in die Heimat. Doch wann, das ist unklar. Und so nutzt sie die Zeit vor dem Umzug, um ihrem siebenjährigen Sohn Erinnerungen an Tallinn auf den Weg zu geben.