Ukraine

Der Großvater der Straße

Wenn es Besuch mitten in der Nacht gibt, steht Andrej Suchorukow auf und öffnet die Tür, selbst um vier Uhr morgens. Obdachlose Kinder und Polizisten klingeln an seiner Tür am Stadtrand von Kiew. Suchorukow nimmt Kinder auf, die aus ihren Problemfamilien geflohen sind.

Früher war Suchorukow Abgeordneter im ukrainischen Parlament. Seit über zehn Jahren nun widmet sich der Rentner als Vorsitzender der internationalen Gesellschaft für Menschenrechte in der Ukraine den zahlreichen Straßenkindern im Land.

Suchorukow spricht bedächtig und melodisch, er hat Zeit. Die braunen Augen hinter der rechteckigen Brille schauen aufmerksam und ruhig. Über Suchorukows Bildschirm flimmert eine Excel-Tabelle mit 492 Namen. Tag für Tag trägt der 70-Jährige die Daten jedes einzelnen „Klienten“ sorgfältig ein: Name, Alter, Adresse, Telefonnummer, Ausbildung, Tag des Besuchs, Anzahl der Übernachtungen. Seine heutigen Besucher stehen in der Datenbank unter den Nummern, 417, 487 und 488: Denis, Serjoscha und Sascha sind jeweils 11, 14 und 15 Jahre alt und kennen diese Wohnung mit den blassorangenen Wänden seit geraumer Zeit. Sie sind „Wegläufer“, „Begunki“, wie sie Suchorukow liebevoll nennt. Die Jungs tragen billige Jeans und Pullis, sie kommen aus Berditschew, einer kleinen Stadt etwa 200 Kilometer von Kiew entfernt. Sie sind für eine Woche in die Hauptstadt geflohen – um zu betteln und ihr Geld für Essen und Spielen in einem Computer-Club auszugeben. Und um Klebemittel zu schnüffeln. „Dort, in meiner Heimatstadt, habe ich es satt“, sagt Denis.

Mit Betteln vor McDonald’s - Filialen oder an Kaufhauseingängen lassen sich pro Tag 100 bis 200 Griwna verdienen, sagen die Kinder. Umgerechnet sind das 10 bis 20 Euro. Das Geld zählen sie auf und stecken in einen kleinen Safe, die Tür schließt Suchorukow selber. Dann wissen die Jungs: Das Geld ist sicher und wird von keinem der anderen „Gäste“ geklaut. Nur Suchorukow hat die Schlüssel vom Safe und von der Wohnung. Wenn sich die Jungs auf den Rückweg machen wollen, bekommen sie das Erbettelte unversehrt zurück. „Woher es kommt, das frage ich nie“, sagt Suchorukow. „Sie kommen schließlich, um hier zu übernachten. Und nicht, damit ich etwas predige“.

Außer dem Safe und dem Computer gibt es nicht viel zu sehen in dieser 50 Quadratmeter großen Zweizimmerwohnung in der Pjotr-Saporoschets-Straße. Die Einrichtung ist sparsam, fast spartanisch: Ein Tisch aus Sowjetzeiten, ein paar schwankende Stühle, ein Schrank mit Büchern über Bildung und Psychologie, der zweite Klapptisch, einfache Regale.

Als Andrej Suchorukow an einem kalten Herbstabend vor zwölf Jahren zwei schmutzigen, halb erfrorenen Kindern auf der Straße begegnete, ahnte er noch nicht, dass sie sein Leben ändern würden. Er hatte die Brüder, 11 und 12 Jahre alt, in ein Café mitgenommen, Kuchen und Tee für sie gekauft und seine Adresse auf einen Fetzen Papier gekritzelt. Am nächsten Abend standen die beiden vor seiner Tür. Wie Spione Geheimbotschaften in die Zentrale übermitteln, gaben sie Suchorukow Adresse weiter, im Schneeballsystem. Nach den ersten „Wegläufern“ kamen die nächsten. So geht es bis heute.

Seine Besucher haben zwar verschiedene Gesichter, ihre Geschichten aber haben wenige Variationen. Die Eltern sind arm, die Familien gespalten. Es wird getrunken, die Kinder werden geschlagen. Oder: Die Eltern gibt es nicht mehr. Und gibt es sie doch, wurde ihnen das Sorgerecht entzogen. Serjoscha, Denis und Sascha gehören zu den 26 Namen auf der Liste, die unter 18 sind. Die anderen gehören bereits zu den Ehemaligen. Sie kamen als Kinder, sind inzwischen erwachsen. Das Leben auf der Straße lässt sie aber nicht mehr los. Die meisten sind zwischen 19 und 24 Jahre alt. „Sie kommen als Diebe und Bettler und gehen als Diebe und Bettler. Mit dem einzigen Unterschied, dass sie nach dem Besuch bei mir saubere Socken anhaben, gewaschen und satt sind“, sagt Suchorukow. „Das ist besser, als wenn sie schmutzig, verbissen und hungrig wären. So bauen sie wenigstens keinen großen Mist.“

Für seine kleinen „Klienten“ ist Andrej Suchorukow so etwas wie ein Großvater. „Hier wohnt der Großvater, hier ist es besser als zu Hause“, sagt Serjoscha. Das hindert einige allerdings nicht daran, aus seiner Wohnung die letzten wertvollen Gegenstände zu stehlen, sei es ein Handy, einen LCD-Monitor oder Geld. Deshalb hat Suchorukows sein gelbes Sportfahrrad an die Heizung gekettet. „Sonst hätten sie es längst geklaut“, erklärt er.

Die kommende Fußball-Europameisterschaft wird wohl keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Situation der Kinder haben - weder positive noch negative. Was aber sicher ist: „Die ganze Welt schaut auf die Ukraine. Eine Chance, dass die Öffentlichkeit für die Probleme der Kinder sensibilisiert wird“, sagt Rudi Luchmann, stellvertretender Büroleiter von UNICEF in der Ukraine. Nach Einschätzungen der Organisation gibt es im Land mittlerweile zwischen 30.000 und 100.0000 Straßenkinder.

Andrej Suchorukow hält diese Zahl für zu hoch. „Im Vergleich zu den frühen Neunzigern gibt es heute viel weniger Kinder. Nicht, weil die Behörden ihre Arbeit hervorragend schaffen, sondern auch wegen des Geburtenschwundes der letzten Jahrzehnte“. Auch Irina Duwanskaja, Direktorin eines Kiewer Kinderheims, stellt fest, dass immer weniger Kinder ins Heim gebracht werden. 2003 gab es in ihrer Unterbringung mehr als 130 Kinder, heute sind es nur noch etwa 20 bis 40.

Nach ukrainischen Vorstellungen ist Suchorukow ein reicher Mann. Umgerechnet 1.600 Euro bekommt er monatlich als pensionierter Parlamentsabgeordneter. Viel Geld in einem Land, in dem die durchschnittliche Rente etwa 250 Euro beträgt. Am Ende des Monats bleibt Suchorukow allerdings nicht viel übrig. 400 Euro zahlt er für die Miete, 350 Euro für zwei Assistenten, die juristische Fragen klären, noch 100 Euro kriegt der Buchhalter, etwa 300 Euro für das Essen und für die Arzneimittel – da kommt einiges zusammen. Neulich musste Suchorukow sogar einen Kredit aufnehmen, um die Wohnung weiter unterhalten zu können. Die Gesellschaft für Menschenrechte, die er seit 1994 vertritt, hat nur wenig Geld, erklärt er, deshalb bezahlt er alles selber. Das Schild der Organisation hängt gut sichtbar an seiner Tür. „Sonst denkt die Polizei, ich unterhalte ein Diebesnest“, sagt er.

Trotzdem rufen die Nachbarn immer wieder die Polizei, wenn sie genug vom Lärm der Jugendlichen haben. Manchmal streiten sie, gibt es eine Schlägerei. Dreizehn Wohnungen hat Suchorukow deshalb in den letzten zwölf Jahren gewechselt. Egal, wo er hinzieht, die Adresse bleibt der Polizei bekannt. Auch an diesem Abend gibt es Probleme. Die Eltern von Denis, Serjoscha und Sascha haben die Adresse herausgefunden. Nun sind sie zusammen mit drei Polizisten da, sie wollen ihre Kinder zurückholen. „Mein Vater wird mich jetzt umbringen“, sagt einer der Jungs.

Nachdem die kleinen „Wegläufer“ weg sind, reibt sich Suchorukow die Augen vor Müdigkeit. Die Eltern haben ihn beschuldigt, er habe die Kinder illegal aufgenommen. „Sie sollten sich eigentlich selber besser um die Kinder kümmern, damit sie nicht weglaufen“, sagt er. Ändern kann er daran aber nichts: Wenn die Eltern ihre Kinder vernachlässigen oder gar schlagen, müssen sich damit die Behörden beschäftigen. Er streicht nachdenklich über seinen schlohweißen Bart und sagt zum Abschied: „Ein Gefängnis, das keine Gefangenen mehr hat, hängt eine weiße Fahne aus. Das werde ich hoffentlich irgendwann tun“.


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